Manuskript

 

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Peter Fuchs

 

Das WorldWideWeb – ohne Technik

 

Zweifelsfrei ist eine inflationäre Beobachtungstendenz zu verzeichnen, durch die immer mehr soziale Systeme als Funktionssysteme der Gesellschaft ausgezeichnet werden. Man kann fast den Eindruck gewinnen, dass ein besonderes Verdienst darin läge, die Analyse sozialer Phänomene auf der Abstraktionsebene der Gesellschaftstheorie anzusiedeln, eine Art Nobilitierung, die mit dem Forschungsgegenstand die einschlägige Forschung (und die an ihr beteiligten Analytiker) mitnobilitiert. Ärgerlicherweise kommt es dabei nicht selten dazu, dass mit wenig heuristischer Sorgfalt gearbeitet wird und die Zusammenhänge der Theoriefiguren, die es überhaupt gestatten, von funktionaler Differenzierung zu reden, nicht beachtet oder nicht einmal beherrscht werden.

 

Das heißt jedoch nicht, dass man besser die Finger davon ließe, sondern nur, dass es wichtig ist, sich zu verdeutlichen, dass die Prüfung, ob ein soziales System ein Funktionssystem sei oder nicht, zunächst einmal einen heuristischen Apparat in Bewegung setzt, der nicht nur auf die Identifikation eines Funktionssystems (oder auf die Verwerfung einer entsprechenden Hypothese) hinauslaufen muss, sondern zunächst einmal eine Reihe von Beobachtungschancen eröffnet, die der schärferen Spezifikation eines in Frage stehenden Sozialsystems dienlich sein können. Es könnte dann darum gehen, das fokale System in ein evolutionstheoretisches Vergleichsregister einzuordnen, das Stellen vorsieht für preadaptive advances, für abweichende Entwicklungen und evolutionär seltene Fälle so gut wie für voll ausdifferenzierte Funktionssysteme und nur den Systemtyp Organisation oder den Systemtyp Interaktion ausschließt, insofern also durch die Referenz auf Gesellschaft und ihre primäre Ordnungsform begrenzt ist.

 

Der Name WorldWideWeb legt nahe, eine Referenz dieses Typs zu unterstellen, denn dass im Zentrum des Netzes nicht nur Interaktionen stehen (und auch diese nur in einer speziell modifizierten Form der Ermöglichung virtueller Anwesenheit/Abwesenheit), ist so evident wie die Annahme, dass wir es nicht mit einer Autopoiesis von Entscheidungen zu tun haben, die nur von Entscheidungen hergestellt werden, die weitere Entscheidungen herstellen. Wenn das WWW ein Sozialsystem ist (und wir wollen von dieser Hypothese ausgehen[1]), dann müsste es auf eine zu klärende Weise auf die Form der Gesellschaft bezogen werden. Impliziert ist damit, dass wir gar nicht daran denken, das WWW als komplexe Technik zu behandeln. Sie wäre, wenn wir das System als Sozialsystem auffassen, so etwas wie eine Infrastruktur, vergleichbar dem neuronalen Netzwerk, das zum psychischen System im Verhältnis struktureller Kopplung steht, also Rahmenbedingungen setzt, die für das System des Bewusstseins nicht kontrollierbar sind. Technik ist, wenn es um das WWW geht, unverzichtbar, sie offeriert eine Welt der Konditionierungen, aber der Blick auf sie eröffnet nicht ansatzweise den Blick auf das, was es als Sozialsystem darstellt.

 

Alle folgenden Überlegungen prüfen diese These anhand des wichtigsten Punktes des Kriterienkanons, der typischerweise eingesetzt wird, wenn man sich des primär gesellschaftlichen Status eines Sozialsystems zu versichern sucht, nämlich anhand der Funktionsfrage.

 

I

Gesetzt also, das WWW könne als Sozialsystem beobachtet werden (und nur das würde ja die Einschaltung der Soziologie rechtfertigen), drängt sich die Frage auf, wodurch das ja offensichtlich prosperierende System evolutionär begünstigt wird. Das ist die Frage nach der Funktion, die im Rahmen der Systemtheorie aber nicht als Eigenschaft eines Systems dargestellt wird, sondern als „Vergleichsdirektive“, die zustande kommt durch die Konstruktion eines Systemproblems, im Blick auf das äquivalente Problemlösungen instruktiv vergleichbar werden.[2] Wenn die Annahme beibehalten wird, dass das WWW in gesellschaftlicher Referenz zu thematisieren wäre, dann müsste dieses Problem auf der Ebene der Form der Gesellschaft konstruiert werden.

 

Diese Form wird bezeichnet durch den Ausdruck funktionale Differenzierung, der im Prinzip bedeutet, dass die Gesellschaft so etwas ist wie der ‚Horizont‘ einer Zerlegung von Kommunikationsprozessen in eine Reihe geschlossener, in sich zirkulierender Systeme wie Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Politik, Kunst, Religion, Erziehung, die autonom operieren in dem Sinne, dass sie ihre spezifischen Operationen (besondere Kommunikationen) im Medium gesellschaftlicher Kommunikation ausschließlich allein herstellen, also je für sich ein Reproduktionsprimat haben – eine Form, die aber nicht dazu führt, dass ein System gleichsam hervorragende Primarität in Anspruch nehmen kann, sondern nur dahin, dass sich das Bild einer Parallelität von Primaritäten ergibt, eine nicht-hierarchische Struktur, die gewöhnlich als Heterarchie bezeichnet wird, in der kein Darüber/Darunter ermittelt werden kann, kein heiliger (letzter) Grund, keine arché, aber auch kein heiliger (höchster) Abschluss, durch die die Einheit dieser Ordnung zu garantieren wäre. Genau das ist mit dem Begriff Polykontexturalität ausgedrückt: Es gibt keine Repräsentation der Einheit der Gesellschaft und ihrer Funktionssysteme in der Gesellschaft oder in den Funktionssystemen.

 

Das hat zwei bemerkenswerte Konsequenzen. Die eine ist, dass die heterarche Anordnung der Funktionssysteme identisch ist mit der Unmöglichkeit sowohl der Beobachtung als auch der Selbstbeobachtung der Gesellschaft. Sie ist, beobachtungstechnisch gesehen, nicht einheitlich, sondern mannigfaltig verfasst, sie ist eine Disparatheit, die es ausschließt, dass es eine Stelle, einen logischen Ort gäbe, von dem aus sich ein anderer als ein operativer Einheitsbegriff gewinnen ließe, der ja nichts weiter bedeutete als den Rekurs auf Kommunikationen, die Kommunikationen herstellen in einem Vernetzungswerk von Kommunikationen. Daraus folgt, dass es keinen legalen (auch keinen: legalisierbaren) Zentralbeobachter der Gesellschaft geben kann, damit auch keinen allseits anerkannten Direktivenspender, der die Wege weisen könnte, die die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme zu gehen hätten.

 

Die zweite Konsequenz, die unmittelbar damit zusammenhängt, ist, dass auf dieser Ebene der Systembildung keine sozialen Adressen ausgeprägt werden: Weder die Gesellschaft noch die Funktionssysteme sind adressierbar. Sie haben, wiewohl ihnen Bezeichnungen wie Recht, Politik, Wissenschaft etc. zugemutet werden, keine Eigennamen, bei denen sie sozial gerufen werden könnten. (N. Luhmann 1997a: 886) Sie haben keine ansprechbaren Mitten. Man kann eher an das Christkind oder den Nikolaus schreiben als an die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Erziehung.

 

Beide Konsequenzen zusammengenommen (die ja nur verschiedene Beobachtungseffekte unter der Bedingung von Polykontexturalität sind), ergibt sich, dass die Gesellschaft kein Bild von sich selbst gewinnen kann, das verbindlich wäre, sondern nur Imaginationen  prozessiert, in denen über die Gesellschaft in der Gesellschaft kommuniziert wird. Sie ist Imagination in einer Imagination, in der unnachahmlichen (darf man sagen: schillernden?) Genauigkeit Niklas Luhmanns: immer nur und ausschließlich: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Sie ist als Sein und Wesen nicht erreichbar, sie ist ein fungierendes Phantasma.[3]

 

Das wäre jedoch nur ein Problem für einen Beobachter, der auf Seins- und Wesensbestimmungen insistiert. Gibt man diese epistemologischen Blockaden auf, wird das Problem interessant, warum in der Gesellschaft (und jetzt immer mitgemeint: in ihren Funktionssystemen) überhaupt Imaginationen-ihres-Selbst angefertigt werden sollten. Warum ist sie nicht ‚ätherisch‘?

 

Geht man davon aus, dass die operativ elementare Einheit der Gesellschaft Kommunikation sei, zeigt sich sofort der Grund: Kommunikation unterscheidet, weil sie etwas unterscheidet, schlicht immer sich selbst mit. Sie ist so wenig wie die Operation des Bewusstseins selbstreferenzfrei denkbar, da die Anzeige dessen, worüber gesprochen, geschrieben, was gelesen, was gehört wird (eben: die Fremdreferenz), immer – wie minimal auch immer – die Anzeige mitlaufen lässt, dass das Gesprochene mitgeteilt und verstanden wird. Auf der Ebene der Operationen fällt unausweichlich die (interne) Kopie der System/Umwelt-Unterscheidung an. Das geschieht laufend und allenthalben, und damit wird die Möglichkeit geschaffen, über diese Differenz (Fremd-/Selbstreferenz) Strukturmuster zu verdichten und der evolutionären Bewährung/Verwerfung auszusetzen. Etwas anders ausgedrückt: Die unentwegt mitgeführte Selbstbeobachtung auf der Ebene der Kommunikation kann zu Texten (Dokumenten jeder Art) gerinnen, die wir Selbstbeschreibungen nennen, die an Eigennamen gebunden sein können, aber nicht müssen.[4] Damit lässt sich die Vorstellung aufbieten, dass es nicht eine, gleichsam komplette und maßgebliche Selbstbeschreibung der Gesellschaft gebe, sondern eine Pluralität von konkurrenten Selbstbeschreibungen.

 

Überspringt man historische Formen der (in diesem Sinne) Selbstbeschreibungen der Gesellschaft, landet man in der unmittelbaren Moderne beim Funktionssystem der Massenmedien (N. Luhmann 19962; P. Heintz 1982; F. Marcinkowski 1993), das der vollendete Ausdruck jener Pluralität ist. Dieses Funktionssystem ermöglicht, dass das Medium der öffentlichen Meinung so geformt wird, dass ein unaufhörliches Beobachten von Beobachtungen entsteht, durch die die Welt (Fremdreferenz) der Gesellschaft (Selbstreferenz) kommunikative Konturen gewinnt: als Prozessieren von Differenzen, durch die sich die Gesellschaft irritieren lässt, ohne dabei auf einen Einheitsnenner gebracht zu werden.

 

Für unsere Überlegungen ist aber interessant, dass in diesen Modus (der sozusagen marktförmigen Beobachtung von Beobachtungen und Beobachtern) mindestens drei Asymmetrien eingebaut sind, die im System der Massenmedien strukturbildend arbeiten, damit aber auch die Beobachtung von Beobachtungen und Beobachtern entscheidend einschränken. (N. Luhmann 1997c: 1099ff.) Die erste dieser Zuspitzungsrichtungen begünstigt in der Sachdimension Quantitäten, die als Zahlen ungewöhnliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aber durch Reflexion nicht ohne weiteres mitkontrolliert werden. In der Sozialdimension wird die Zurechnung auf Personen (Ethnien, Staaten etc.) führend, also ein Welttheater inszeniert, in dem die Dramen weniger auf Strukturen als auf ‚handelnde‘ Einheiten reduziert werden. In der Zeitdimension kommt es auf den Neuigkeitswert von Informationen an, also, genau besehn, auf laufende Informationsvernichtung bzw. die laufende Organisation von Vorgeschichten, die Informationen als neu erscheinen lassen.

 

Alle diese ‚Stauchungen‘[5] sind keineswegs dysfunktional, im Gegenteil: Sie sind die Bedingung der Unmöglichkeit einer vollständigen Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft. Sie kopieren deren operative Form und verweigern sich Einheitszumutungen. Es geht nicht um Lüge oder Manipulation[6], sondern um die fortwährende Selbststabilisierung eines Systems, das vom Modus der Unvollständigkeit jeder Selbstbeschreibung der Gesellschaft zehrt, insofern es nicht aufhört, vielfache und verschiedene Beschreibungen dieses Typs zirkulieren und konkurrieren zu lassen auf der Basis seines Mediums, der öffentlichen Meinung.

 

Das WWW hat nun, wie man auf den ersten Blick sagen kann, nicht diese Eigentümlichkeiten. Es nutzt all die Zeichen, die auch das System der Massenmedien einsetzt, Bild und Schrift und Ton in hoch raffinierten Kombinationen. Es ‚beinhaltet‘ auch Nachrichten, Werbung, Unterhaltung (die dann den Asymmetrien und Strukturen der Massenmedien unterliegen), aber offensichtlich erschöpft es sich nicht darin, diese Ressourcen zugriffsfähig zu halten, und es ist auch nicht allein dadurch bestimmt, dass es die klassischen Internetdienste wie E-Mail, Net-News, Mailinglisten, Internet Relay Chats zur Verfügung stellt oder virtuelle Spielwelten wie die MUDs (Multi User Dungeon).

 

Es ist aus einem Medium für wissenschaftliche Verlautbarungen (Kernforschungszentrum CERN) entstanden und hat sich entwickelt zu der paradoxen Form eines privaten Massenmediums[7], das es jedem und jeder (auch jeder Organisation) gestattet, Dokumente beliebiger Art in das Internet ‚einzustellen’ ohne einen technischen Aufwand, der die Sozialform der Organisation auf der Seite der Nutzer erzwingen würde. Die virtuellen Orte dieses Einstellens sind Websites, die Adressen haben, die sich direkt ansteuern lassen bzw. über die Hypertextstruktur des Webs erreicht werden können. Diese Struktur ermöglicht es, dass Dokumente (via Hyperlinks) ‚Klickanweisungen‘ enthalten, mittels derer sich durchschalten lässt zu anderen Dokumenten, die ebenfalls ‚Klickanweisungen‘ enthalten. Diese zunehmend in die Dokumente eingestreuten Umlenk- oder Schaltstellen sind es, die den eigentlichen Netzcharakter des Webs ausmachen.[8] Man könnte sagen, dass das WWW auf einer Ebene erster Ordnung arbiträr und massenhaft Dokumente in ein kaum geordnetes Register hängt, das auf der Ebene zweiter Ordnung virtuelle (vor allem individuelle) Sinnverweisungschancen offeriert.

 

Entscheidend ist aber für unseren Argumentationszusammenhang, dass die Dokumente der ersten Ordnung keiner durchgreifenden Strategie der Themenabwehr unterliegen. Das WWW bietet für beliebige Bewusstseinszustände die Möglichkeit der Publizität an, oder besser gesagt: Es konditioniert in äußerst geringem Maße, was als Mitteilung gelten darf und was nicht. Es ist gerade nicht an die für das Funktionssystem der Massenmedien typischen Asymmetrien geknüpft, zumindest nicht an die Aufmerksamkeitsbindungen, die durch Nachrichten über kognitiv schlecht kontrollierbare Quantitäten oder durch den Neuigkeitswert von Informationen ausgelöst werden. Private Websites können sicherlich Attraktion gewinnen, insofern sie human interest aufbauen, aber es gibt allem Anschein nach keine durchlaufende Struktur der Personalisierung (Dramatisierung von Kommunikation anhand Zurechnungsroutinen auf Personen). Offenbar ist das Medium dieses ‚privaten‘ Massenmediums nicht: öffentliche Meinung.

 

II

Man nähert sich einer weiterführenden Problemkonstruktion an, wenn man die Dokumente erster Ordnung als ein Medium auffasst, in das die Sinnverweisungsschläge der Hyperlinks befristete Formen eintragen. Das zwingt aber dazu, nach der Form des Mediums zu fragen, und da findet sich als erste und überraschende Auskunft, dass jene Dokumente (oder in der vielleicht etwas irreführenden Formulierung von Michael de Vries und Andreas Brill: jene Texturen) nicht die Form von Kommunikation haben. Sie sind so wenig wie Bücher, lose Blätter, Akten, Notizen, Filme: kommunikative Operationen. Kommunikation wäre die operative Verkettung (Kopplung, Katenation) solcher Dokumente, der Vorgang eines In-Beziehung-Bringens, und zwar so, dass Dokumente etwas besagen für weitere Dokumente in der Form des selektiven Zugriffs auf vorangehende Dokumente, die nur deshalb Dokumente sind (jetzt: Momente der Kommunikation), wenn dieser Zugriff erfolgt, also selektiv angeschlossen wird, und wenn nicht, dann nicht. Genau diese Zeitform der Katenation wird Autopoiesis genannt.

 

Daraus resultiert für das WWW (immer genommen als Sozialsystem) eine doppelte Kommunikationsbewandtnis. Die Dokumente erster Ordnung können, wenn man so sagen darf, zu netz-externen Kommunikationszwecken eingesetzt werden. Sie sind dann (wie alle Äußerungen, wenn sie durch weitere Äußerungen als Mitteilungen definiert werden) gleichsam vorstrukturierter Lärm, der interessegebunden abgerufen werden kann, aber selbst nicht nach der Weise herkömmlicher Massenmedien asymmetrisiert (‚gestaucht‘) ist. Auf dieser Ebene ist das WWW in die Gesellschaft sozusagen as usual eingeklinkt. Die Dokumente können weitere Kommunikationen der verschiedensten Art stimulieren bzw. Bewußtseine auf die geläufige Art engagieren. Anders ausgedrückt: Es kommt zu keiner operativen Schließung des Systems, zu keiner Selbstreproduktion, in der spezifische Elemente aus spezifischen Elementen desselben Typs hergestellt werden. So gesehen, bestünde kein Anlass, das WWW als Sozialsystem aufzufassen, sondern eher als eine Art elektronischer Bibliothek mit komfortablen Dokumentvernetzungsmöglichkeiten unter Einbezug massenweise anfallender privater (idiosynkratischer) Dokumente und klassischer Internetdienste – es wäre eine Anwenderoberfläche. (M. Sandbothe 1999: 363-386, hier 372)

 

Die bislang einzige Chance, auf einer Ebene zweiter Ordnung operative Schließung einzurichten, bietet die Hypertextualität des WWW, die die Dokumente erster Ordnung in virtuelle Beziehungslagen einrückt, also in einem sehr genauen Sinne im Medium dieser Dokumente engere Kopplungen zwischen den Elementen des Mediums ermöglicht, Kopplungen, die (und auch das ist typisch für Heider-Medien) zeitflüchtig sind und deswegen viele Form-Arrangements für Beobachter zulassen, die die Verweisungsschläge der Hyperlinks in Anspruch nehmen.

 

Die Nutzung der Dokumente der ersten Ebene ist, wenn man so sagen darf, sinndicht. Man kann die Texte lesen, die Musik hören, die Bilder anschauen, den Videosequenzen folgen. Das Verfahren der Sinnentnahme (oder besser: sinnförmigen Sinnbeobachtung) ist nicht wesentlich anders als in anderen Alltagslagen der Kommunikation. Die Kopplungen auf der Ebene zweiter Ordnung dagegen kopieren zwar sehr genau die Form von Sinn, aber erzeugen virtuelle Sequenzen von Dokumenten, deren Selektivität sich nicht mit der Selektivität der Anschlüsse decken muss. Im Beobachtungsmodus des Surfens kann die Website eines Schalkefans durchlotsen zu Blondinenwitzen, die einen operativen Verweis (Hyperlink) auf Harald Schmidt enthalten, etwa auf die Homepage eines Sprücheliebhabers, von der aus ein weiterer operativer Verweis zu Anettes Philosophiestübchen führt etc.pp. Zwar lassen sich vom Nutzer Festverweise installieren (etwa mit der Favoritenfunktion), aber vom Prinzip her können jederzeit virtuelle Arrangements von Dokumenten erzeugt werden, die füreinander wenig oder gar nichts besagen und sich durch Nichtwiederholung schlicht verlieren.

 

Diese hohe Arbitrarität lässt erwarten, dass Strukturen der Aufmerksamkeitsbindung entstehen.[9] Einfache Formen sind etwa die so genannten Web-counters, die den Nutzer einer Website darüber informieren, wie viel Leute sonst noch auf deren Sinnangebot zugegriffen haben.[10] Gästebücher lassen es zu, Notiz davon nehmen zu können, was für Urteile einige der Besucher der Seite über das Angebot gefällt haben. Mit Hilfe des link-for-link-Verfahrens lassen sich Hyperlinks in einer Art Tausch auf anderen Websites erwerben, die auf die je eigene Seite verweisen. Man kann Ikonen einsetzen, die Referenz auf massenmedial bekannte Personen[11] oder auf Sexualität als Attraktor nutzen. Stärker wirksame Strukturen sind die Website-Kritiken, die für Benutzer den Bestand vorseligieren, zum Beispiel anhand ästhetischer Kriterien, oder die Werbung, die häufig genutzten Websites aufreitet.

 

Strukturen dieses Typs, die Aufmerksamkeit binden sollen, sind punktgenau bezogen auf die Möglichkeit von Kontextbrüchen, die eine hoch unruhige, nicht dauerhaft besetzbare psychische Umwelt jederzeit und auf der Basis von Hypertextualität inszenieren kann. Die Vermutung liegt nahe, dass sich attraktive Aufmerksamkeitsbindungen evolutionär einspielen, die sich an den Asymmetrien der Massenmedien orientieren. Dann würde das private Massenmedium WWW öffentlich werden und einrangieren in das Funktionssystem der Massenmedien, damit aber auch seine Spezifik verlieren. Eine andere Vermutung, der wir hier folgen wollen, bezieht sich darauf, dass die Evolution nicht die eine oder andere Seite des WWW (Privatheit/Öffentlichkeit bzw. Dokumentebene erster/zweiter Ordnung) ausarbeitet, sondern an der Differenz selbst ansetzt.

 

Die Möglichkeit dazu findet sich formal darin, dass die Kommunikation von Privatheit im Zentrum einer eigentümlichen Paradoxie steht: Der Form nach ist keine Kommunikation privat. Sie könnte als Kommunikation nicht funktionieren, wenn sie nicht auf Allgemeinmedien wie Sprache (oder fundamentaler) Sinn zugriffe. Nicht einmal das Bewusstsein kann sich privat beobachten, ohne von sozial angeliefertem Sinn (also von strikter Allgemeinheit) Gebrauch zu machen. (P. Fuchs 1998b; ders. 1999: 14-29) Genau besehn, gibt es nicht die Kommunikation privater Bewusstseinszustände, sondern nur Dokumente (Äußerungen), die nicht-privat behaupten, es gehe um Privates. Jede Äußerung ist eine Verlautbarung, die sich der Mittel bedient, die ‚publik‘ sind; jede Verlautbarung, die idiosynkratisch wäre, würde Kommunikation schlagartig kollabieren lassen. Seit Derrida können wir wissen, dass nicht einmal eine Unterschrift privat ist.

 

Die Differenz privat/öffentlich ist deshalb (gleichsam: zwingend) in einer langen semantischen Geschichte als Differenz von Sozialsphären ausgearbeitet worden und nicht oder kaum als Differenz von Individualität/Sozialität. In der griechischen Antike findet sich zwar zu homerischen Zeiten ein ganzes Unterscheidungssyndrom (mit einer Fülle von Ableitungen), so etwa demion e idion (Odyssee 4.314) im Sinne einer Gegenüberstellung von Dingen, die mit anderen Leuten zu tun haben, und solchen Dingen, die nur für einen selbst Bedeutung haben oder die man nur mit anderen Leuten tut, aber ohne darüber zu sprechen.[12] Aber in der Polis ist die koinonia deutlich getrennt vom oikos, vom ganzen Haus, das nicht dem bios politikos dient und insofern den sozialen Ort des Privaten darstellt, in dem der Einzelne nicht ins Öffentliche verwickelt wird, insofern der oikos ihm eigen (idia) ist. (J. Habermas 1983a: 15f)

 

Die Gelenkstelle zwischen bios politikos (zu dem die lexis, das Gespräch, und das gemeinsame Tun, die praxis, gehören) ist der Oikodespot, der Herr des Hauses, in dem sich, wie Habermas sagt, „das Reich der Notwendigkeit und der Vergänglichkeit“ (Geburt, Leben, Tod, Arbeit, Frauendienst) vollzieht – „im Schatten der Privatsphäre versunken“. (J. Habermas 1983b: 16) Es geht um eine soziale Ausblendungsleistung, auf deren Gegenseite die Bürger (als homoioi, als pares) miteinander reden: mit der Absicht, auf diesem ‚Markt‘ hervorzuragen, sich auszuzeichnen (aristoiein). Tugend und Tugendkonkurrenz ist öffentlich in diesem Sinne. (Ebenda)

 

Das Muster dieser Differenz hält sich, wenn man summarisch argumentiert, bis in die Moderne durch, verändert sich aber mit der Ausdifferenzierung eines Systems der Massenmedien, das die private Kehrseite des öffentlichen Verkehrs der Leute noch einmal beobachtet unter den präferentiellen Gesichtspunkten, die wir oben metaphorisch als ‚Stauchung‘ bezeichnet haben, also letztlich unter Skandalisierungsaspekten. In etwas anderer Formulierung: Die Massenmedien beobachten die Allmende (den nicht-privaten Umgang der Leute miteinander) argwöhnisch, und sie tun das, indem sie (und wieder: präferentiell) auf das Private hinter dem Nicht-privaten, das nicht öffentlich ist, durchschließen und daraus dann Ereignisse konstruieren, die als Nachrichten mit Unterhaltungswert die Reproduktion des Systems sichern.

 

Der Gedanke ist, dass das System der Massenmedien im Medium der öffentlichen Meinung operiert und damit eine ‚Rückseite‘ der nicht-öffentlichen Meinung erzeugt, eine Welt des Nicht-Publiken, die sich den Operationen des Systems entziehen, das im Blick auf sein Medium, wie Niklas Luhmann sagt, „selbstinspirativ“ tätig ist. Diese forum-freie Welt fällt aus den Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft heraus.[13] Sie ist, bezogen auf die Massenmedien, idiosynkratisch. Und sie konnte in keine mediale Position einrücken, da es vor dem WWW kein System gab, das die Kommunikation von privaten Bewusstseinszuständen beliebiger Privatleute in die Form eines eigenen Mediums hätte bringen können, in die Form privater Allgemeinheit, in die Form eines gleichsam elektronischen locus communis.

 

Ebendies ist möglich durch die Doppelstruktur des WWW, das einerseits die Installation virtueller Orte erlaubt, die (im Blick auf massenmediale Wirksamkeit) idiosynkratische Kommunikation auf einem virtuellen Markt solcher Orte zugänglich hält, andererseits auf der Ebene der Hyptertextualität Vernetzungswerke kondensieren lässt, die die Chance eröffnen, für idiosynkratische Privatheit interessierte Beobachter zu gewinnen. Das System würde parasitieren an dem, was die Autopoiesis der Massenmedien als ihre Kehrseite der Nicht-Öffentlichkeit ausgrenzt, und: Es würde eine weitere Selbstbeschreibungsvariante der modernen Gesellschaft ins Werk setzen und damit die Funktion des Einschlusses dessen übernehmen, was durch die Massenmedien ausgeschlossen wird.

 

Der letzte Absatz schließt jedoch mit einer Serie von Konjunktiven, die signalisieren, dass die Problemkonstruktion des Einschlusses von massenmedial Ausgeschlossenem durch das WWW noch nicht zulänglich bestimmt sein könnte. Zwar mag es richtig sein, dass mit der Ausdifferenzierung des Systems der Massenmedien die Schattenwelt des Privaten anfällt, aber es ist alles andere als klar, wieso dies ein Problem sein könnte, das seinerseits durch ein System sui generis (eben das WWW) aufgegriffen und in die Form der Erzeugung einer virtuellen ‚Halböffentlichkeit‘ gebracht wird, die nicht den ‚Stauchungen‘ herkömmlicher Massenmedien unterliegt. Um hier mehr Deutlichkeit zu gewinnen, muss zunächst ein Umweg gegangen werden.

 

III

Die Form dieses Systems, des WWW, ist die laufende Reproduktion der Differenz der Dokumentebenen erster und zweiter Ordnung, eine Reproduktion, für die gelten müsste, dass sie geschützt wird gegen Interdependenzen mit dem System der Massenmedien. In dieser Schutz- oder Abschirmfunktion stehen klassisch Interdependenzunterbrecher, also Grenzen bzw. autopoietische Schließungen. Wir hatten schon ausgeführt, dass die Chance zur Schließung des WWW einzig in seiner Hypertextualität liegt, die virtuelle Vernetzungen der Dokumente erster Ordnung erlaubt. Diese Vernetzungen sind sequentielle Arrangements von Dokumenten, die Hyperlinks enthalten, die zu weiteren Dokumenten führen, die Hyperlinks enthalten, die zu weiteren Dokumenten führen, die ... etc. Jene Arrangements sind, wie man vielleicht sagen könnte, nicht inferientell aufeinander bezogen im Sinne einer hierarchisch-logischen Struktur der Induktion bzw. Deduktion. Ihr Zusammenhang ist transferentiell, sie sind Kurzfristmuster mit hoher Zufallsempfindlichkeit und Zerfallsanfälligkeit.

 

Diese Muster kombinieren die Elemente des Mediums (Dokumente erster Ordnung) derart, dass sie füreinander wenig, möglicherweise gar nichts besagen (müssen). Der Verkettungssinn kann minimal sein, kann sich einzig und allein darauf beschränken, dass es möglich war, durch eine Klickoperation zu der Möglichkeit weiterer Klickoperationen zu kommen. Es ist, als ob eine für das System im Detail unbestimmte und unbestimmbare Attentionalität durch das System so engagiert wird, dass dem Medium Formen eingeschrieben werden, die nicht strukturfähig sind.[14] Die Elemente des Mediums prägen keine synaptischen Verdickungen aus, es entstehen keine Pfade. Die Kopplung ist exakt virtuell und hinterlässt allenfalls Spuren.[15] Sie ist – in einer anderen Terminologie gesagt – mikrodivers.[16]

 

Die Arrangements, die durch das gleichsam mikrodiverse ‚Surfen‘ entstehen, können nicht durch das Medium erinnert werden, so wenig, wie sich Buchstaben daran erinnern könnten, für welche Wörter sie in Anspruch genommen wurden.[17] Diese Analogie lässt sich verschärfen: Buchstaben sind auch nicht in der Lage dazu, festzustellen (und später zu erinnern), wie oft sie zur gleichen Zeit in Form gebracht wurden, und genauso registrieren die Dokumente erster Ordnung nicht, in welche Anzahl von Formungen sie zur selben Zeit verwickelt sind. Das Medium des WWW wird (wie alle Medien) durch Formbildung nicht affiziert.

 

Man könnte mithin sagen, dass auf der Ebene zweiter Ordnung, ermöglicht durch Hypertextualität, Ereigniskomplexionen ablaufen, die in dem Sinne neuartig sind, dass sie sich nicht publizieren lassen, keinen Ort haben und nicht dramatisch sind (oder allenfalls einer sozusagen psychisch okkulten Dramaturgie folgen). (W. Halbach 1992: 53-67) Diese Komplexionen sind für das System nur der Form, nicht ihrer Singularität nach reproduzierbar, obwohl oder weil sie massenhaft in jedem Moment anfallen. Das System prozessiert wie die Massenmedien Kommunikationen, die antwortfrei bleiben, aber hält die Ereigniskomplexionen, die es ermöglicht, aus dem Bereich des Zitierfähigen, Reproduzierbaren weitgehend heraus. Es kann seine virtuellen Elementverkettungen nicht benennen.

 

Genau diese Nicht-Reproduzierbarkeit der Formeinschreibungen in das Medium fungiert als Interdependenzunterbrecher gegenüber den Massenmedien, die nur die Dokumente erster Ordnung beobachten können.[18] Sie sind aber nicht in der Lage dazu (und das ist der übliche Befund, wenn es um Systemgrenzen geht), die Reproduktion der Differenz des Systems in den Blick zu bekommen: Das System ist ja ebendiese Reproduktion und eben in diesen Reproduktionsbewandtnissen uneinsehbar.[19]

Damit ist ein seltsames Phänomen verknüpft. Einerseits wird in der Umwelt des Systems dämonisch-quirlige Inquiétude, also unberechenbares, Eigeninteressen verfolgendes, kaum kontrollierbares Bewusstsein vorausgesetzt, das in der Weise der konditionierten Koproduktion (bzw. struktureller Kopplung) (P. Fuchs 2001c) das Spiel des Systems überhaupt ermöglicht; andererseits muss diesem Bewusstsein auch nicht mehr als diese Dämonie unterstellt werden. Das System ist kaum auf bestimmtes Bewusstsein angewiesen. Wie bei den Massenmedien herkömmlicher Bauart ist der Adressatenkreis weitgehend anonym, aber anders als bei diesen Massenmedien muss auf die Selektion des Verstehens nur geringer Wert gelegt werden, wenn es um die Reproduktion der Differenz des Systems geht. Zwar kommt die ‚Lektüre‘ der Dokumente erster Ordnung nicht ohne psychische Verstehensleistungen aus, aber für die Reproduktion des Systems selbst sind diese Leistungen unspezifische Umweltgegebenheiten.

 

Die traditionellen Massenmedien sind in ihrer Autopoiesis darauf angewiesen, dass rezipiert wird, und sind deshalb darauf eingerichtet, frei flottierende Attentionalität (durch ihre Asymmetrisierungen) zu binden. Das WWW benötigt ebenfalls vagabundierende Aufmerksamkeit für Dokumente beliebiger Art, aber installiert (differentiell zu dieser Ebene) seine Reproduktion, indem es laufend idiosynkratische Arrangements von Dokumenten ermöglicht, die über dem Medium ‚flackern‘. Die Konsequenz ist, dass es das Bewusstsein in seiner Umwelt, bezogen auf seine Reproduktion, de-spezifiziert. Obwohl es um die Publikation von Privatem geht, wird das Private des Bewusstseins ausgeblendet. Das WWW ist ein ‚Wegpumpwerk‘ für dezidiert zu berücksichtigendes Bewusstsein, obschon in seinen Registern private Dokumente hängen. Wie (für die Theorie nicht anders erwartbar) steckt im Zentrum seiner Reproduktion eine Paradoxie, deren Entfaltung (morphogenetische Invisibilisierung) das System vollzieht.

 

Aber noch einmal: Wozu könnte das gut sein? Oder besser: Was für Vergleichsmöglichkeiten handelt man sich mit dieser Problemkonstruktion ein?

 

IV

Zunächst ist die These bewegt worden, dass das WWW in die Funktionsstelle der Selbstbeschreibung der Gesellschaft eintritt, indem es die Schattenwelt des Privaten, die durch das System der Massenmedien ausgefällt wird, aufgreift und so bearbeitet, dass sie publiziert und nicht-publiziert zur selben Zeit erscheint. Nun sieht es so aus, als ob das WWW den Beschreibungen der Gesellschaft nicht eine weitere Beschreibungsmöglichkeit hinzufügte, sondern als ob es die Form der modernen Gesellschaft kopierte, und zwar in einer ganz bestimmten Hinsicht: Es saugt auf der Dokumentebene erster Ordnung beliebige Mitteilungen an, es kennt (kaum) Themenabwehr, es ist vollkommen gesellschaftsoffen, wenn damit gemeint ist, dass es so wenig wie die Gesellschaft irgendwelche Kommunikabilien ausklammert, solange sie nur im Medium als Element fungieren können; aber es abstrahiert dabei operativ von jeder Spezifik. Die Besonderung der Formeinschreibungen (das virtuelle, idiosynkratische chaining der Dokumente) ist nicht selbst repräsentabel.[20]

 

Das könnte bedeuten, dass das System des WWW eine Beschreibung der Gesellschaft in der Gesellschaft prozessiert, die – paradox genug – die Nicht-Repräsentabilität der Einheit der Gesellschaft in einem ethymologisch genauen Sinne: präsentiert. Das System kopiert die Nicht-Einheitsfähigkeit (die Nicht-Erreichbarkeit) der Gesellschaft im Wege des re-entry in die Gesellschaft. (P. Fuchs 1992) Das System der Massenmedien hingegen lässt konkurrierende Selbstbeschreibungen der Gesellschaft zu, es suggeriert (auf dem Wege der ‚Stauchungen‘), dass es Bedeutsamkeiten gebe, globale Relevanzen, globale Vordringlichkeiten, global Bemerkenswertes. Das WWW entzieht sich jeglicher Pointierungsmöglichkeit. Es inszeniert ein ‚Verblitzen‘ jeder Verkettung, es ist, wenn man so will, eine fortwährende ‚Verblitzung‘ jeglicher Einheitsprätention, und es ist deshalb von der Form her: anti-fundamentalistisch, wie viel Fundamentalismen auch immer in die Dokumentenebene erster Ordnung eingeklinkt werden.

 

So sonderbar es klingt, damit wird dieses System nicht nur vergleichbar mit dem System der Massenmedien, sondern auch mit dem der Kunst.[21] Deren soziale Funktion gravitiert um das Problem, wie man in der Welt (die immer nur die Welt ist, die sie ist) wahrnehmbar macht, dass diese Welt nur beobachtete Welt und das heißt: unaufhebbar kontingent ist. (N. Luhmann 1990: 7-45; ders. 1995) Etwas operativer ausgedrückt: Die (moderne) Kunst zeigt an Kunstwerken, dass in jeder Beobachtung – weil sie Beobachtung ist – etwas verschwindet, die Möglichkeit einer Einheitsbeobachtung, einer Totalsicht, einer Perfektion in der Beobachtung der Welt. Kunst führt wahrnehmungstechnisch vor, dass die Welt nicht zu ‚haben‘ ist. Ebendeshalb ist Kunst zutiefst ironisch.[22]

 

Das System reproduziert die Differenz beobachtbar/unbeobachtbar im Medium der Wahrnehmung anhand eigens dafür präparierter Objekte (Kunstwerke), und es setzt dabei eine psychische Umwelt voraus, die in einem Zuge etwas Wieder erkennen und sich am Wieder erkennen bzw. Wieder erkannten überraschen lassen kann. Es bereitet seine Dokumente (Kunstwerke) so zu, dass das Paradox redundanter Varietät entfaltet wird. Auch hier gilt, dass das System nicht die Zusammen-Stellung (das Gestell) seiner Dokumente ist, sondern die operative Reproduktion jener Differenz.

 

Der Vergleichspunkt liegt mithin darin, dass beide Systeme (Kunst und WWW) es mit der Unmöglichkeit bzw. Verunmöglichung der Repräsentation einer Einheit in einer Einheit zu tun haben, Kunst, bezogen auf die Beobachtung der Welt, das WWW, bezogen auf die Komplettbeobachtung der Gesellschaft. Die Kunst erfüllt ihre Funktion durch die Präsentation von Objekten, die sich nicht vollständig beobachten lassen, also auf Unausschöpfbarkeit hingetrimmt sind; das WWW konfrontiert die kurrenten Selbstbeschreibungen der Gesellschaft durch die Massenmedien mit durch diese Medien nicht erfassbaren Gegenseiten, indem es eine ‚Dauerverblitzung‘ installiert, die sich nicht selbst publizieren lässt. Beide Systeme richten sich auf der Ebene der Unmöglichkeit einer totalisierenden Beobachtung ein.[23]

 

Aber sehr verschieden ist die Weise, wie diese Systeme ihre bewusste Umwelt engagieren oder (präziser) intern rekonstruieren. Die Kunst errechnet sich das zu ihr passende Bewusstsein (ob es nun um Künstler, Rezipienten oder beides zugleich geht) als eines, das fasziniert werden kann durch Objekte, die keinerlei praktischen Sinn haben. Es muss ein ästhetisch irritierbares, also vor allem (und im Augsgangssinn dieses Wortes) empfindlich für Wahrnehmung sein.[24] Es sollte sein Erleben erleben können und über die Fähigkeit verfügen, auf vollständige Entzifferung von Objekten der Kunst nicht angewiesen zu sein, sondern im Gegenteil: sich gerade durch die Kommunikation von unausschöpfbarem, diskursiv nicht darstellbaren Sinn ‚entzünden‘ lassen. Kurz: Die Konstruktion eines in diesen Hinsichten sensitiven (nicht unbedingt aber gelehrten) Bewusstseins ist unverzichtbar.[25]

 

Im Gegensatz dazu (zu dieser Konstruktion quasi ‚tiefer‘ Adressen) benötigt das WWW unruhiges, nur befristet bindbares Bewusstsein, dessen Spezifik allein darin besteht, dass es sich zum ‚Surfen‘ animiert. Es muss die ‚Geräte‘ bedienen können, aber nicht zwingend dazu in der Lage sein, komplexe Sinnoperationen (wie Erleben erleben, Wahrnehmung als Wahrnehmung goutieren etc.) durchzuführen. Diesen Umstand hatten wir durch die Formulierung ausgedrückt, dass das WWW Bewusstsein de-spezifiziert, also eigentlich in ein kaum geordnetes Rauschen transformiert.[26]

 

Die Kunst ‚offenbart‘, dass alle Beobachtung geordnete Beobachtung ist (also immer etwas verdeckt wird, wenn man etwas beobachtet); das WWW imponiert dadurch, dass es laufend sich vernichtende Ordnungen ermöglicht. An beide Formen knüpfen sich (darf man sagen: brisante?) Chancen und Risiken der Sozialisation des damit befassten Bewusstseins, zu denen, soweit ich sehe, theoretisch und methodisch sehr weitreichende Forschungen noch nicht vorliegen, aber dringlich erforderlich wären.

 

V

Mit all diesen Überlegungen ist nichts weniger als entschieden, dass es sich beim WWW tatsächlich um ein Funktionssystem der Gesellschaft handelt oder einmal handeln wird. Es zeigt sich nur, dass die analytische Chance besteht, den Kriterienkatalog, der auf solche Systeme bezogen ist, fruchtbar zu machen – auch dann, wenn weitere Überlegungen dazu führen müssten, nur festzuhalten, dass ein neuartiges, deshalb ungewöhnliches Sozialsystem evoluiert, das den geläufigen Beobachtungsschemata nicht entspricht. Zuvor aber könnte man mit Hilfe weiterer Kriterien dieses (offenen) Kataloges die Beobachtung des WWW mit Komplexität anreichern.

 

So ist die Frage zu klären, ob das System einen binären Code entwickeln konnte (oder eben entwickelt), der den Einzugsbereich (die Zugriffsmöglichkeiten des Systems) zugleich limitiert wie universalisiert, limitiert, indem dieser Code das System scharf unterscheiden müsste von anderen Systemen, universalisiert, indem kein anderes System auf der Basis dieses Codes operieren könnte. Ebenso dringlich wäre es, darüber nachzudenken, ob das System zu symbolischer Generalisierung seines (oder eines) Mediums gelangen kann, ein Problem, das zwingt, die Unwahrlichkeit der Sinnofferte des WWW zu formulieren, vielleicht unter Rückgriff auf die Frage, wie es dem System gelingt, Bewusstsein zu engagieren, das sich auch anders engagieren könnte. Oder: Lassen sich Zweit- und Nebencodes identifizieren? Gibt es Kandidaten für eine Kontingenzformel, die einen Unüberschreitbarkeitshorizont des Systems fixiert? Wer garantiert die organisatorische Sicherheit? Wie ist der Körperbezug des Systems geordnet, finden sich also symbiotische Mechanismen, die in Krisenfällen aktivierbar sind?

 

Das sind Fragen über Fragen, bei denen es nicht darauf ankommt, ob sie positiv oder negativ entschieden werden, wohl aber darauf, dass die Bemühung um Antworten ein Systemprofil zeichnen würde, das weniger von Spekulationen abhängig wäre. Darauf könnte es dann doch ankommen, wenn und insoweit dieses System Sozialsystem ist, eine Angelegenheit der Sinnwelt und nicht: eine Ballung schierer Technik.

 

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[1] Insofern gehe ich locker von früher gemachten Annahmen aus, die nicht schon deswegen als zementiert und nicht revidierbar gelten sollten. Vgl. jedenfalls P. Fuchs 1998a: 301-322 und P. Fuchs 2001a: 49-57.

[2] Vgl. zu einer neueren Darstellung dieser Methode P. Fuchs 2001b.

[3] Hinzuzufügen wäre: in einer Welt von Beobachtern, die nie etwas anderes kennen kann als Phantasmen der Beobachtung. Das nach wie vor unüberbietbare Bild dafür ist das platonische Höhlengleichnis.

[4]N. Luhmann 1997b: 880f. Er zeigt, dass Selbstbeschreibungen auch im Wege des Kontrastes ermittelt werden können. Ein modernes Beispiel: Westliche Zivilisation/islamistischer Fundamentalismus.

[5] Das ist jetzt sprachlich schwer zu machen. Es wird natürlich keine vorgegebene Realität (über die sich wirkliche wirkliche Informationen gewinnen ließen) gestaucht oder verzerrt, sondern ein laufender Durchsatz von Informationen ermöglicht, die sich als Momente einer Realitätskonstruktion durchhalten lassen oder nicht.

[6] Durch diese Form wird ‚seriöser‘ Berichterstattung nicht ausgeschlossen, sondern nur im Blick auf mögliche Anschlüsse einsortiert oder aussortiert.

[7] Dieser Ausdruck findet sich bei A. Brill./M. de Vries (1998a): 266-300, 283.

[8] Das hat mich dazu veranlasst (in Brill/Vries 1998b, a.a.O.), in diesen Durchklickoperationen die autopoietische Form des Netzes zu vermuten.

[9] Vgl. zum Topos selbst F. Rötzer 1999: 35-58. Eine hier wichtige (aber nicht mitbearbeitbare) Spur führt zum phänomenologischen Begriff der Attentionalität. Siehe als eine detaillierte Ausarbeitung J. Markowitz 1986.

[10] Vgl. dazu und für die meisten weiteren Beispiele Brill/Vries, (1998c): 285f.

[11] Ebenda erwähnen Brill/Vries die Homepage, die auf alle Bilder Claudia Schiffers im Netz hinweist.

[12] Vgl. dazu und zu einer Reihe von kulturgeschichtlichen Studien im Blick auf diese Unterscheidung B. Moore 1984.

[13] Nicht ganz, müsste man sagen, insofern auch vor dem WWW privat verbreitete Gazetten vorkamen, hektographierte Zeitungen für kleine Kreise, Schüler- und Bierzeitungen, Science-fiction-Fanzines, selbst reproduzierte Hefte mit Lyrik von Lyrikbegeisterten für Lyrikbegeisterte etc. Der Unterschied ist, dass mit dem WWW die Publizitätschancen für idiosynkratische Kommunikation steigen – über Eingeweihte hinaus.

[14] Insofern passt die Metapher der Einschreibung nur sehr bedingt.

[15] Siehe zu dieser Differenz A. Assmann 1992: 93-102, hier 93f. Das Hinterlassen von Spuren bezieht sich dann auf den Beobachter, der aus welchen Gründen immer daran interessiert ist, ob bestimmte Dokumente Aufmerksamkeit binden konnten oder nicht. Ich erinnere an die Web-Counter, die Gästebücher etc.

[16] Hier läge jedenfalls eine weitere Ausarbeitungsmöglichkeit. Vgl. jedenfalls N. Luhmann (1997): 23-32 und grundlegend St. N. Mai/A. Raybaut (1996): 223-239

[17] Ich erinnere daran, dass wir uns hier nicht auf der Ebene der technischen Infrastruktur bewegen, sondern auf der sinn-orientierter Systeme.

[18] Das schließt nicht aus, dass Bewußtseine einzelne Surfgänge erinnern könnten, aber sie bilden die Umwelt des Systems.

[19] Das ist ein Schlüsselprinzip der Autopoiesis, dass die eigentliche Reproduktion (die Herstellung der Elemente, die das System herstellen, das die Elemente herstellt) sich externen Zugriffen verschließt.

[20] Und wenn sie es wäre, wenn es also gelänge, diese Ereigniskomplexionen ihrerseits zu speichern, so würde jeder Speicher und jede Informationsverarbeitung an Komplexitätsüberlasten zusammenbrechen.

[21] Immer vorausgesetzt, es handle sich beim WWW um ein Funktionssystem in statu nascendi.

[22] So wie es die (Schlegelsche) Romantik gemeint hat: als Einsicht in Unabschließbarkeit, in fundamentale ‚Fragmentarität‘, die nie ‚fundamental‘ sein kann, weil sich auch von der Einsicht der Unabschließbarkeit her kein System (ein Totum) entfalten lässt. Vgl. P. Fuchs (1993): 199-222. Im Übrigen gibt es viele Hinweise, dass auch die Nutzung elektronischer Medien Ironie begünstigt. Vgl. als Randbemerkung dazu P. Fuchs (2000): 19-21.

[23] Wenn das etwas bedeuten könnte, ließe sich sagen, sie seien exakt ‚postmodern‘, das dann im Unterschied zu den herkömmlichen Massenmedien.

[24] Vorsichtshalber: Es muss dies alles nicht sein, es muss nur gelernt haben, sich so zu verhalten, als ob man ihm dies unterstellen könne.

[25] Das lässt sich auch an den Selbstdarstellungserfordernissen des künstlerischen Personals erkennen, das eine ganz eigentümliche Arroganz im Blick auf seine Situiertheit in der Welt vorzuführen versteht. Kunst muss nicht erklären, wozu sie gut ist. Umso erstaunlicher sind dann kunst- und museumspädagogische Bemühungen.

[26] Hier ließen sich dann weitere instruktive Vergleiche etwa zum Wirtschaftssystem starten, das auch an Bewusstsein kaum mehr voraussetzt als mögliches Engagement in Zahlungsoperationen.