Fachzeitschrift SuchtMagazin 3/97 |
Systemtheorie
- eine Einführung
Anhand
von drei ausgewählten Gebieten aus der Suchtarbeit - Beratung, Therapie
und Prävention - soll versucht werden, einige der Grundgedanken dieser äusserst
komplexen Theorie zu erläutern. Martin Hafen
Die
Suchtarbeit hat, wie die Sozialarbeit generell, mit Menschen zu tun. Süchtige
Menschen werden beraten; sie werden therapiert, und es werden Programme
entwickelt, um zu verhindern, dass Menschen überhaupt süchtig werden.
Nicht nur wer beruflich mit Menschen zu tun hat, weiss, dass diese
Menschen nicht isoliert in einer undefinierbaren Welt schweben. Menschen
sind Teil einer Familie; sie arbeiten in Firmen oder staatlichen
Institutionen; sie gehören Vereinen und politischen Parteien an. Menschen
führen Gespräche; sie streiten; sie lieben und sie hassen sich - kurz:
Menschen stehen die meiste Zeit ihres Lebens in Kontakt mit andern
Menschen; sie sind soziale Wesen.
Systemtheorie
in Sucht- und Sozialarbeit
Es
ist naheliegend, dass alle diese vielfältigen Beziehungen auch
Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen haben. Da sich Sucht- und
Sozialarbeit nicht nur mit Menschen, sondern auch mit deren
Verhaltensweisen beschäftigen, ist es für diese Disziplinen von vitalem
Interesse, zu erfahren, wie denn diese sozialen Beziehungen und wie sie
auf die Menschen einwirken. Die Systemtheorie nach Maturana/Varela und
Luhmann (siehe Kasten) liefert das Instrumentarium dafür. Zwar
wird der Begriff „System“ in der Sozialarbeit gerne verwendet, doch
eine konsequente Umsetzung der systemtheoretischen Erkenntnisse in die
Sozialarbeitstheorie ist bis heute ausgeblieben. Anders bei der
Familientherapie: In diesem Bereich der Psychologie - der natürlich auch
in der Sozialarbeit und gerade in der Suchtarbeit[i]
zum Tragen kommt - spielt die Systemtheorie eine bedeutende Rolle und hat
die Arbeit einer grossen Zahl von FamilientherapeutInnen massgeblich
beeinflusst.[ii] Die zahlreichen Schriften des führenden Systemtheoretiker der Gegenwart, Niklas Luhmann, und anderer AutorInnen lassen aber den Schluss zu, dass die Systemtheorie auch für andere Gebiete der sozialen Arbeit äusserst nützliche Hilfestellungen anbietet.
Soziale…
Bevor
wir anhand des Beispieles eines Beratungsgespräches auf weitere
Grundgedanken der Systemtheorie eingehen möchten, soll ein zentrales
Element dieser höchst komplexen Theorie behandelt werden: die Trennung
von sozialen und psychischen Systemen. Soziale
Systeme entstehen aus systemtheoretischer Sicht immer dann, wenn Menschen
zusammen kommunizieren. Das grösstmögliche soziale System ist (Welt-)Gesellschaft.
Sie vereint alle mögliche Formen von (Unter-)systemen in sich, wobei
diese Systeme für ihre Mitglieder immer eine und meistens mehrere
Funktionen erfüllen: Das Wirtschaftssystem regelt u.a. den Austausch von
Gütern; das Rechtssystem versucht bestimmte Verhaltensregeln zu
durchzusetzen; der Kegelklub sorgt für Geselligkeit, und die Beichte soll
dem Gläubigen Erleicherung verschaffen. Jeder Mensch gehört immer zur
gleichen Zeit mehreren Systemen an - manchen ohne Unterbruch (z.B. als Bürger
eines Staates), anderen wiederum nur zu gewissen Zeitpunkten (z.B. einem
Stammtischgespräch). Die aufgeführten Beispiele werden in der
Systemtheorie[iii]
als Gesellschafts- und Organisationssysteme bezeichnet; sie zeichnen sich
durch eine ihnen eigene Strukturierung aus. Die konkreten Beziehungen
zwischen Menschen, die sich im Rahmen dieser Systeme abspielen, werden
Interaktionsysteme genannt. Sie werden uns in der Folge hauptsächlich
interessieren. Jedes
Interaktionssystem besteht (wie alle sozialen Systeme) aus
Kommunikationen, die sich aneinander reihen; hören diese Kommunikationen
auf, existiert auch das System nicht mehr; wir werden dies später am
Beispiel des Interaktionssystemes „Beratungsgespräch“ darstellen. Wie
jedes System hat auch das Interaktionssystem eine ganz spezifische Umwelt;
zu dieser Umwelt gehören - untrennbar mit dem System verbunden - die
psychischen Systeme der kommunizierenden Menschen. Diesen Systemen wollen
wir uns jetzt zuwenden.
…und psychische Systeme
Ein
anderer Begriff für das psychische System des Menschen ist
„Bewusstsein“ - dieser Terminus wird nachfolgend auch mehrheitlich
verwendet. Sind es beim Interaktionssystem die Kommunikationen, die sich
aneineranderreihen und das System überhaupt begründen, so übernehmen im
menschlichen Bewusstsein die Gedanken diese Funktion. Das Bewusstsein
ausschalten, heisst in diesem Sinn: aufhören zu denken. Wie schwierig das
ist, weiss, wer es versucht hat. Schlussendlich wird das Bewusstsein nicht
einmal im Schlaf permanent ruhig gestellt. Der
Umstand, dass sich soziale und psychische Systeme selbst herstellen, indem
sie ihre Elemente (die Gedanken resp. Kommunikationen) immer wieder
erneuern und ihre Strukturen[v]
anpassen, wird in der Systemtheorie mit dem Begriff Autopoiesis
umschrieben. Autopoietische Systeme sind einerseits geschlossen, d.h. sie
können nicht linear beeinfluss werden; andererseits sind sie gleichzeitig
offen, da sie auf den Austausch von Informationen mit ihrer Umwelt
angewiesen sind. Auf
das Bewusstsein bezogen bedeutet das folgendes: Die Informationen aus der
Umwelt - z.B. das, was wir hören, sehen, schmecken usw. - beeinflussen
die Art und Weise, in der unsere Gedanken reproduziert werden. Welche
dieser Informationen ausgewählt und wie sie interpretiert werden, wird
genauso durch die Bewusstseinsstrukturen beeinflusst wie die Wahl der
Reaktion, die diese Informationen bewirken. Da diese Strukturen von
aussenstehenden Person oder Systemen bestenfalls erahnt werden können,
kann von aussen auch nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden, wie ein
psychisches System auf eine bestimmte Information reagieren wird[vi].
In dieser Hinsicht sind die Gedanken wirklich so frei, wie es das alte
Kinderlied verkündet; mit der Einschränkung vielleicht, dass der Grad
ihrer Freiheit durch die Bewusstseinsstrukturen bestimmt wird.
Die Umwelt psychischer und sozialer Systeme
Systeme
in unserem Sinn sind auch dadurch charakterisiert, dass sie sich von allem
anderen abheben. Diese andere wird als „Umwelt“ bezeichnet, wobei
diese Umwelt selbst aus unzähligen Systemen besteht, die für das
bezeichnete System eine mehr oder weniger grosse Rolle spielen. In diesem
Sinn befinden sich die Bewusstseinssysteme der Mitglieder eines sozialen
Systems in dessen Umwelt, und das soziale System ist Teil der Umwelt der
Bewusstseinssysteme. Wir werden später noch auf diesen Punkt zurückkommen. Ein Bereich der Umwelt ist für beide Systeme die physische Umwelt. Wie die Operationen des Bewusstseins ablaufen, ist z.B. durch das Gehirn entscheidend vorbestimmt. Eine Schädigung des Gehirns - z.B. infolge Sauerstoffmangels bei der Geburt - bewirkt, dass die Operationen des Bewusstseins unter anderen Voraussetzungen ablaufen, als wenn keine Schädigung vorliegt. Aber auch die natürliche, genetisch vorgegebene Reifung des Gehirns beeinflusst die Art und Häufigkeit der Operationen, also der Gedanken[vii]. Wir
gehen also davon aus, dass die physische Umwelt des Bewusstsein, das
Gehirn, die Voraussetzungen zur Reproduktion unserer Gedanken bereit
stellt. Jetzt ist bekannt, dass diese physischen Voraussetzungen bei den
(gesunden) Menschen identisch oder zumindest sehr ähnlich sind. Trotzdem
denken die Menschen sehr verschieden; sie sprechen andere Sprachen, und
sie verhalten sich anders - kurz: die Gedanken, die in den psychischen
Systemen verschiedener Menschen reproduziert werden, unterscheiden sich.
Dieser Unterschied liegt zu einem grossen Teil darin begründet, dass
Menschen erstens nicht den gleichen Informationen ausgesetzt sind,
zweitens die Informationen nicht auf die gleiche Weise auswählen und
drittens aufgrund dieser Informationen unterschiedliche Strukturen
entwickeln, die wiederum die Wahl neuer Informationen und Gedanken
beeinflussen. Die Art und Weise, mit der diese Strukturen entwickelt
werden, unterscheidet sich jedoch nicht: Sie werden erlernt. Genauso wie
wir eine Sprache erlernen, lernen wir unzählige andere Dinge. - Von der
Geburt an, entstehen im menschlichen Bewusstsein unablässig neue
Strukturen, die die Auswahl neuer Informationen und die Reproduktion der
Gedanken beeinflussen.
Was
ist Realität?
Bevor
wir zu unserem Beispiel kommen, gilt es anzumerken, dass beim Austausch
von Informationen zwischen dem psychischen System und seiner Umwelt noch
eine weitere physische Komponente eine Rolle spielt: Die Reize, die unsere
Sinnesorgane aufnehmen, werden durch die Nerven in elektronische Impulse
umgewandelt, ins Gehirn transportiert und dort in das umgeformt, was wir
zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken oder zu spüren glauben.
„Glauben“ deshalb, weil alle diese Sinneindrücke unsere individuelle
Interpretation von dem ist, was wir z.B. sehen. Unser Auge liefert, um bei
diesem Beispiel zu bleiben, sozusagen eine Hypothese des Angeschauten,
eine Hypothese, die wir dann - auch aufgrund unserer bestehenden
Bewusstseinsstrukturen und der momentanen Situation - als „Realität“
interpretieren[viii]. Diese vor allem durch die
Theorie des (radikalen) Konstruktivismus formulierte „Realitätsdefinition“
findet in der Theorie der autopoietischen Systeme ihre Bestätigung: Dem
über das Nervensystem übertragene Bild wird ein Gedanke zugeordnet,
wobei zu beachten ist, dass jeder Gedanke immer einen von vielen möglichen
darstellt. Er macht das Gesehene bestimmbar und schafft so die Möglichkeit
für einen Anschlussgedanken oder - gegen aussen - für eine
Anschlusshandlung. Diese Selektion - und dies ist eine tragende Komponente
der Systemtheorie - ist gleichbedeutend mit einer Reduktion der Komplexität
der Umwelt, eine Reduktion, ohne die wir nicht handlungsfähig wären,
denn wir können ja nie alle möglichen Gedanken denken und auf alle möglichen
Arten handeln, sondern müssen uns beschränken.
Ein
Beratungsgespräch aus systemtheoretischer Sicht
Versuchen
wir die beschriebenen theoretischen Grundsätze an einem Beispiel zu
veranschaulichen und weitere auszuführen: Eine junge Frau tritt in des
Aufnahmezimmer einer Suchtberatungsstelle, in welchem eine
Sozialarbeiterin sitzt - ein Interaktionssystem „Beratungsgespräch“
ist entstanden. Nächste (strukturell gekoppelte) Umwelt dieses Systems
sind die Bewusstseinsysteme der beiden Frauen; ohne sie würde das
soziale System nicht existieren. Auch in der weiteren Umwelt gibt es
Systeme oder Tatsachen, die unser soziales System betreffen: So ist das
Gespräch Teil des Organisationssystemes Suchtberatungsstelle; die
Sozialarbeiterin kann also ziemlich sicher sein, dass die junge Frau bei
ihr keine Ferienreise auf die Malediven buchen will, sondern dass sie
Fragen oder Probleme hat, die mindestens zum Teil mit dem Thema Sucht zu
tun haben. Die zentralen Elemente dieses sozialen Systems sind
Kommunikationen, die direkt oder indirekt mit diesen Fragen zu tun haben.
Vom System her gesehen reihen sich diese Kommunikationen aneinander, und
das System wird nur so lange existieren, wie diese Aneinanderreihung
erfolgt. In einem Beratungsgespräch erfolgt der Abbruch in der Regel
durch die Gesprächsbeendigung und das Auseinandergehen der Gesprächsteilnehmenden;
es wäre aber in unserem Fall durchaus auch möglich, dass die Klientin
z.B. nicht aufgrund eigener Probleme, sondern wegen ihres Bruders gekommen
ist, da sie die Sozialarbeiterin privat kennt und dass die beiden nach
Auflösung des Interaktionssystems „Beratungsgespräch“ eine
Unterhaltung über gemeinsame Bekannte beginnen und so ein neues
Interaktionssystem entstehen lassen.
Vor-
und andere Urteile
Doch
bleiben wir in unserem Beratungsgespräch: Sieht unsere Sozialarbeiterin
die Klientin zu ersten Mal, wird sie sich gedanklich mehr oder weniger
schnell mit der Frau beschäftigen. Wenn sie z.B. noch zwei, drei Sätze
vom Protokoll der morgendlichen Sitzung zu Ende schreiben muss, wird sie
ihr mit einer kurzen Bemerkung einen Stuhl zuweisen und sich gedanklich
wieder ihrem Papier zuwenden, wobei die Strukturen ihres Bewusstsein diese
Auswahl ihres Verhaltens auf eine relativ überschaubare Menge von Möglichkeiten
einschränken werden: Die strukturelle Komponente „Anstand“ wird es
ihr z.B. verbieten, ohne Erklärung eine halbe Stunde über ihr Blatt
Papier gebeugt zu bleiben. Wenn
die Sozialarbeiterin ihre Arbeit erledigt hat, wird sie ihre Gedanken der
Klientin zuwenden; sie macht sich mit ziemlicher Sicherheit ein „erstes
Bild“ von ihr, d.h. sie wählt Gedanken aus, die das beschreiben, was
sie zu sehen vermeint - z.B: „Frau, knapp 20, sympathisch, müde etc.“
oder „Frau, unsicher, sicher eine Fixerin etc.“. Welche Gedanken sie
auswählt, ist, wie wir gesehen haben, von verschiedenen Faktoren abhängig:
Gesprächssituation, psychische Verfassung, Art der nervlichen Impulse,
Bewusstseinstruktur etc.. Je
differenzierter dieses Bild ist, desto mehr Anschlussmöglichkeiten eröffnet
es. In diesem Umstand liegen Vorurteile begründet: Sie ermöglichen die
Limitierung der Anschlussgedanken oder -handlungen auf eine kleinere Zahl,
was einer (vermeintlichen) Erleichterung von Denken und Handeln
gleichkommt. Um einen allfälligen Wertungsgehalt dieser Ausführungen
auszuschliessen: Das Wort Vorurteil meint im täglichen Sprachgebrauch vor
allem die negativen Aussagen wie „Jugoslawen sind brutal.“. Ein Satz
wie „Jugoslawen sind hilfsbereit“ ist schlussendlich das Gleiche wie
ein „Vorurteil“ - eine (übermässige) Reduktion von Komplexität;
eine Vereinfachung, die in dieser Form nicht aufgrund von persönlicher
Erfahrung entstehen konnte.
Professionalität
In
Bezug auf unser Gespräch ist davon auszugehen, dass die Art und Weise, in
der die Sozialarbeiterin denkt und vor allem kommuniziert, stark durch
ihre Berufsausbildung und -erfahrung beeinflusst ist. „Durch die
Berufsausbildung beeinflusst“ heisst in diesem Fall: Die Auswahl der
Anschlussgedanken im psychischen System und der Anschlusskommunikationen
im sozialen System ist im Bewusstsein so vorstrukturiert, wie es der
Ausbildner oder die Fachliteratur für richtig erachteten, wobei diese
Inhalte natürlich immer noch den Auswahlfilter im Bewusstsein der
Sozialarbeiterin passieren mussten. Vielleicht sind es aber eher die vielfältigen
Erfahrungen, die die Frau in ihrem Beruf gemacht hat, die die Strukturen
massgebend bestimmt haben. Wie dem auch sei: Die Frau wird bestimmte
Anschlusskommunikation auswählen, die andere Menschen in der gleichen
Situation nicht unbedingt wählen würden; das macht ihre Professionalität
aus. So wird sie eine Vorstellung davon haben, wie sie das Beratungsgespräch
strukturieren will oder sie wird es sich - um ein anderes Beispiel
zu nehmen - verkneifen, der Klientin hauptsächlich von den privaten
Problemen zu erzählen, die sie momentan belasten. Je grösser die Berufserfahrung der Sozialarbeiterin ist, desto mehr Automatismen werden ihr zur Verfügung stehen - also Strukturen, die ihr helfen, die verschiedenen Selektionen, die Laufe der Kommunikation zu auszuführen sind, möglichst akurat zu treffen.
Selektion
als Voraussetzung von Kommunikation
Dieser
Selektionsreihe wollen wir uns als nächstes zuwenden: Während die
Klientin spricht, selegiert die Sozialarbeiterin die Mitteilung, wobei
diese Selektion nicht zwangsläufig die Worte und Sätze der Klientin
betreffen muss; es kann auch deren Körperhaltung, Gestik, Mimik, Betonung
sein, welche durch das Bewusstsein ausgewählt werden. Ist die Mitteilung
selegiert, wird die Information ausgewählt, die in der Mitteilung
enthalten ist. Aus dem Satz „Eigentlich habe ich mit dem Folienrauchen
kein Problem, aber mein Freund meint, ich solle zu Ihnen kommen.“ können
durch aus verschiedene Informationen ausgewählt werden: Wählt die
Sozialarbeiterin die Information aus, die der Mitteilung entspricht, so könnte
ihre Anschlusskommunikation lauten: „Wenn Ihr Freund ein Problem hat,
soll doch er vorbeikommen.“; selegiert sie aber die Information, dass
sich die Frau etwas vormacht, wird sie vielleicht antworten: „Was gibt
Ihnen die Gewissheit, dass Sie keine Probeme mit dem Folienrauchen
haben?“ Damit
haben wir schon zwei weitere Selektionen vorweggenommen: Nachdem die
Sozialarbeiterin - aus ihrer eigenen Sicht! - „verstanden“ hat, was
die Klientin gemeint hat, wählt auch die Sozialarbeiterin zuerst eine
Information und dann die Art der Mitteilung aus, mit der diese Information
transportiert werden soll. Zu
dieser wechselseitigen Auswahl von Information, Mitteilung durch
Sprecherin und Hörerin, die Teil jeder Kommunikation sind, kommt als
weiteres leitendes Kommunikationsprinzip die Verstehenserwartung dazu: Die
Sozialarbeiterin wird - wie die Klientin natürlich auch - ihre
Information so mitzuteilen versuchen, dass das Gegenüber sie so versteht,
wie das beabsichtigt ist. Dieses
Verstehen ist nicht selbstverständlich, denn das Mitteilen einer
Information mittels Sprache, Schrift oder auch Gesten beinhaltet, wie wir
gesehen haben, immer die Möglichkeit, dass die Hörerin die gewählte
Information nicht versteht oder Informationen hineininterpretiert, die von
der Sprecherin gar nicht mitgeteilt werden wollten.
Die Ungewissheit der Wirkung
Hat
die Klientin die Information so verstanden, wie sie gemeint war, stellt
sich die Frage, ob sie auch bereit ist, sich davon beeindrucken zu lassen,
also so zu handeln, wie es sich die Sozialarbeiterin das vorgestellt hat.
Ob diese Bereitschaft mit der Mitteilung erreicht werden kann, hängt
wiederum von den Bewusstseinsstrukturen der Klinentin ab, von ihren
Erfahrungen, Zielen und Wünschen. Sie legt also die Kriterien fest, die
erfüllt sein müssen, damit es sie so handelt, wie die Beraterin es will.
Für diese stellt sich dementsprechend die Frage, wie diese Kriterien
aussehen. Alles was sie tun kann, ist, Reaktionsweisen der Klientin
anzunehmen und diese auszutesten, in der Hoffnung, mit der Zeit ein immer
präziseres hypothetisches Modell der Operations-, d.h. Denk- und
Handelsweise der Klientien zu erhalten. Dieses Modell soll die Chance erhöhen,
dass ihre Kommunikation ihr Ziel erreicht, also die erwartete Handlung,
resp. Anschlusskommunikation der Klientin bewirkt.
Beide
haben Kommunikationsziele
Nehmen wir an, die Klientin ist mit dem Ziel gekommen, von der Beraterin die Bestätigung zu erhalten, dass sie durchaus in der Lage sei, kontrolliert mit gerauchtem Heroin umzugehen. Dieses Ziel, welches kaum offen deklariert werden wird, bildet zusammen mit der Sicherheit, wirklich keine Probleme mit Heroinrauchen zu haben, eine Bewusstseinsstruktur, die das Selektionsverhalten (und damit das Kommunikationsverhalten) der Klientin massgeblich beeinflusst. Mit ihrer Gegenfrage leitet die Beraterin ihren Versuch ein, diese Strukturen - die Motive und Hintergründe oder unbewusste Probleme - so weit erfahren zu können, dass in der Lage ist, gegebenenfalls ein Interventionsziel zu formulieren. Diese Intervention wird nichts anderes sein als der Versuch, die Bewusstseinsstrukturen der Klientin in einer bestimmten Weise zu verändern. Eine solche Veränderung könnte die Erkenntnis sein, dass sie den Heroinkonsum doch nicht so selbständig gestalten kann, wie sie das vorher gemeint hat.
Die
Schwierigkeit der Strukturveränderung
Eine
solche Stukturveränderung zu erreichen, ist nicht einfach. Eine einfache
Handlungsaufforderung wie der Rat: „Rauchen Sie kein Heroin mehr, das
ist schädlich!“ wird die Klientin kaum von ihrer Sucht befreien. Alle
Bewusstseinstrukturen werden einem chronologischen Prozess erworben, sie
sind miteinander verknüpft[ix],
und zudem sind sie auch potentiellen Veränderungenausgesetzt, wobei diese
nicht einfach zu erreichen sind[x].
Die Heroinraucherin hat also mit Sicherheit nicht bloss die
Erstkosum-Erfahrung „Geil, jetzt rauche ich noch oft Heroin, das ist ja
total gut eingefahren!“ oder ähnlich und eine entsprechende
Bewusstseinsstruktur daraus abgeleitet. Ein solches Aha-Erlebnis ist zwar
durchaus möglich, es basiert aber auf undefinierbar vielen vorgängigen
Erlebnissen und Erfahrungen. Diese Erfahrungen sind zum einen
abgespeichert worden und können abgerufen werden; zum andern haben sie
die Bildung von Strukturen bewirkt, die zur Auswahl von Informationen aus
der Umwelt und aus dem Bewusstsein (Gedächtnis) verwendet werden. Auf
unser Beispiel bezogen ist zu beachten, dass nur sehr wenige Menschen
einmal in ihrem Leben Heroin rauchen, und noch viel weniger tun es
wiederholt. Systemtheoretisch gesprochen: Sehr wenige Menschen haben
Bewusstseinsstrukturen, welche sie unter bestimmten Voraussetzungen - z.B.
bei einem Angebot von Rauchheroin - den Gedanken auswählen lassen, jetzt
Heroin probieren zu wollen. Eine
Intervention im Sinne einer ambulanten Beratung, versucht nun - basierend
auf der Vermutung, wie die Denkweise der Klientin aussieht - diese
Bewusstseinsstrukturen zu verändern. Dies geschieht einerseits dadurch,
dass die Strukturen in Worte gefasst und damit für die Klientin besser
erfahrbar und damit hinterfragbar werden; andererseits wird die Beraterin
versuchen, der Klientin Alternativen anzubieten, also Strukturen, welche
in bestimmten Situationen andere Anschlussmöglichkeiten begünstigen.
Doch dazu später.
Von
der Beratung zur Therapie
Da
es in diesem Artikel in erster Linie darum geht, die systemtheoretische
Erklärung für das darzustellen, was wir als Kommunikation bezeichnen,
und nicht um die Inhalte dieser Kommunikation, verlassen wir an dieser
Stelle unser Beispiel des Interaktionssystems „Beratungsgespräch“ und
ziehen einen Bogen zu zwei andern Gebieten der Suchtarbeit: der Therapie
und der Prävention. Dieses Vorgehen soll dazu dienen, einen
entscheidenden Sachverhalt zu illustrieren: Nicht nur in der Suchtberatung
auch in der Therapie und Prävention geht es um Kommunikation -
Kommunikation, die zum Ziel hat, die Bewusstseinsstrukturen so zu
gestalten, dass die Gedanken- und Handlungsselektionen möglichst
vorstellungsgerecht ausfallen. Eine
Therapie macht in diesem Sinn nichts anderes als eine Beratung[xi],
nur greift sie tiefer. Anhand von drei kurz angerissenen Beispielen aus
dem immensen Repertoire von therapeutischen Interventionsmöglichkeiten
soll der systemtheoretische Ansatz näher beleuchtet werden.
Psychotherapie
Die traditionelle Psychotherapie versucht, die massgeblichen Gründe für ein bestimmtes Verhalten herauszuschälen. Die Therapeutin ist also bestrebt - via den Weg der mündlichen Kommunikation und den damit verbundenen Verstehenserschwernissen - eine Vorstellung davon zu bekommen, welche Ereignisse im Lebenslauf der Klientin Bewusstseinsstrukturen bewirkt haben, die für ganz bestimmte, wohl als behindernd empfundene Denk- oder Handlungsweisen ihrer Klientin verantwortlich sind. Die Schwierigkeit dabei ist, dass kausale Linearität praktisch ausgeschlossen ist. Es wird kaum möglich sein, ein Ereignis z.B. in der Kindheit der Klientin zu finden, welches direkt für die zu behandelnden Denk- oder Verhaltensmuster verantwortlich ist. Wenn ein wichtiges Ereignis stattfand, ist davon auszugehen, dass es Selektionsstrukturen im Bewusstsein hinterlassen hat, die auch auf die Bildung von folgenden Selektionsstrukturen ihren Einfluss (gehabt) haben. Alle dieser Strukturen wählen neben Gedanken ja auch Handlungen (z.B. verbale Kommunikationen) aus, und die haben in der Regel Anschlusskommunikationen zur Folge, die als Umwelteinfluss vom psychischen System (Bewusstsein) aufgenommen und verarbeitet werden müssen. Was entsteht, ist ein extrem komplexes Geflecht von Selektionsanordnungen - Selektionsanordnungen, die sowohl in ihrer Entstehensgeschichte als auch in ihrer alltäglichen Funktionsweise voneinander abhängig sind. Erschwerend kommt dazu, dass das menschliche Gehirn die Eigenschaft hat, die meisten diese Strukturen so abzuspeichern, dass ihre Anwendung dem Menschen nicht bewusst ist.
„Entschuldigung!“
Ein
kleines Beispiel: Wenn ich aus Versehen einen Menschen anremple, sage ich
reflexartig „Entschuldigung“, da ich irgendwann die Struktur
internalisiert habe, eine Entschuldigungshandlung zu selegieren, wenn so
etwas passiert. Ein Rollstuhlfahrer hat mir einmal erzählt, dass es oft
vorkomme, dass ein Mensch, dem er von hinten in die Beine gefahren sei,
sich brüsk umdrehe, um sich dann - nachdem er erkannt hat, wer ihn
gestossen hat - selbst zu entschuldigen. Die Struktur, die eine
„normale“ Reaktion wie „He, passen Sie doch auf!“ ausgewählt hätte,
wird durch die Umweltinformation „Rollstuhlfahrer“ von ihrer Selektion
abgehalten. Stattdessen wird eine andere Struktur aktiviert, nämlich:
„Zu behinderten Menschen muss ich rücksichtsvoll sein.“; sie
selegiert die Entschuldigungshandlung, obwohl diese - zumindest von aussen
betrachtet - „unvernünftig“ ist. Doch
kehren wir zu unserem vorangehenden Gedanken zurück: Die
Psychotherapeutin ist im Gegensatz zu der Beraterin speziell dafür
geschult, möglichst tief in dieses dreidimensionale Geflecht von
Bewusstseinsstrukturen vorzudringen und die einzelnen Strukturen möglichst
genau zu interpretieren. Trotzdem machen beide das Gleiche: Sie versuchen,
die unerwünschten Selektionsstrukturen zu deaktivieren. Dies kann - wie
in der Psychotherapie - dadurch geschehen, dass die lange Zeit verborgenen
Denkmuster durch verbale Kommunikation der Klientin bewusst gemacht
werden. Es ist aber auch möglich, die Selektionsstrukturen ausser Kraft
zu setzen, indem neue, gewünschte Strukturen vermittelt und durch die
Klientin erlernt werden.
Die
stationäre Drogentherapie
Eine
stationäre Drogentherapie - um zu unserem zweiten Beispiel zu kommen -
arbeitet in der Regel eher nach diesem Muster. In vielen Therapiestationen
ist z.B. die Frage der Nähe und der Distanz zu den Mitmenschen ein
zentrales Thema. Viele KlientInnen haben das Problem, dass sie sich
emotional nicht so auf einen Menschen einlassen können, wie dies zum
Aufbau einer auf gegenseitigem Vertrauen basierenden Beziehung notwendig wäre.
Anderen wiederum gelingt es nicht, diese Nähe zu begrenzen; sie können
sich nicht abgrenzen - wie man sagt -, und dies erschwert eine tragfähige
Beziehung in der Regel nicht weniger. In den meisten stationären
Therapien geht es nun auch, aber nicht in erster Linie darum, mittels
Therapie zu den Bewusstseinstrukturen oder zu den sie begründenden
Ereignissen vorzustossen. Vielmehr soll versucht werden, neue Strukturen
zu erlernen, die den andern vorgezogen werden. Das heisst: Auf bestimmte
Umwelteinflüsse hin sollen andere Anschlusskommunikation ausgewählt
werden. Um diese Strukturen zu erlernen, müssen sie geübt werden, und
das geschieht sowohl im stationären Alltag als auch an speziell dafür
geschaffenen Anlässen wie z.B. Psychodrama-Sitzungen.
Weg von der Szene - weg von der Realität?
Um
diese Lernprozesse zu fördern, kreieren die meisten stationären
Langzeittherapien eine ganz besondere Umwelt. Sie sind oft in abgelegenen
Gegenden errichtet, und meist wird der kommunikative Kontakt zur Umwelt
des sozialen Systems „Therapiestation“, welches seinerseits zur Umwelt
des Bewusstsein der KlientInnen gehört, zu Beginn der Therapie erschwert
oder untersagt. Das Ziel dieser Massnahmen ist klar: Einflüsse dieser äusseren
Umwelt auf das psychische System des frisch eingetretenen Klienten sollen
- zumindest für gewisse Zeit - ausgeschaltet werden, damit sie das
Erlernen neuer Bewusstseinsstrukturen nicht untergraben können. Diese
künstliche Veränderung der Umwelt von Therapie-KlientInnen ist nicht
unumstritten: Wie wir oben gesehen haben ist das Lernen und das Aktivieren
von neuen Bewusstseinsstrukturen untrennbar mit der Umwelt verbunden. Wenn
die Therapierten das beschützende Umfeld der Station verlassen habern,
werden sie mit eine andere Umwelten konfrontiert - Umwelten, in denen sich
die neu erlernten Bewusstseinsstrukturen unter anderen Voraussetzungen bewähren
müssen.[xii]
Die systemische Therapie im allgemeinen...
Während
die stationäre Drogentherapie zumindest in der ersten Phase vor allem
versucht, die Umwelt so zu gestalten, dass sie den Therapieprozess nicht
stört, ist es der systemischen Therapie ein Anliegen, die Beziehung der
KlientInnen zu dieser Umwelt neu zu formieren. Da in diesem Heft noch
detailliert auf die systemische Therapie eingegangen wird, seien nur
einige wenige Gedanken erlaubt. Basierend
auf der Theorie autopoietischer, also sich selbst erzeugender, autonomer
Systeme konzentriert sich die systemische Therapie weniger auf das
Bewusstsein des Menschen und dessen Strukturen. Vielmehr nimmt es sich den
sozialen Systemen an, denen die KlientInnen angehören. Diese sozialen
Systeme heben sich von ihrer Umwelt ab, indem sie die internen Beziehung
und die Beziehungen zu Umwelt basierend auf einer bestimmten Struktur
regeln, wobei zu beachten ist, dass sich das System immer so strukturiert,
dass es - zumindest aus der gesammelten Sicht seiner Mitglieder - optimal
an diese Umwelt angepasst ist[xiii].
Die Bewusstseinsysteme der Mitglieder des sozialen Systems sind - wie wir gesehen haben - nicht direkt im System integriert, sondern nur als sehr eng verbundene (strukturell gekoppelte) Umwelt vorhanden. Das bedeutet zweierlei: Einerseits ist das soziale System ohne diese Umwelt der Bewusstseinsysteme genau so wenig lebensfähig wie die Bewusstseinssysteme ohne die Umwelt; andererseits besteht trotz diesem Aufeinander-angewiesen-Sein eine gewisse Unabhängigkeit beider Systemarten von ihrer jeweiligen Umwelt: Wie wir weiter gesehen haben, wählt das Bewusstsein aufgrund seiner Strukturen gewisse Anschlussgedanken (intern) und gewisse Anschlusskommunikation (gegen aussen) aus und andere nicht. Das soziale System verhält sich identisch. Auch hier beeinflussen die Strukturen die Wahl der systeminternen und -externen Anschlusskommunikationen, indem sie vorgeben, welche Anschlusskommunikationen möglich sind und welche nicht. Und auch diese Strukturen sind - wie die Bewusstseinsstrukturen - beeinflussbar durch Umwelteinflüsse, d.h. Einflüsse, die von andern sozialen Systemen oder den psychischen Systemen herrühren.
…und
die Familientherapie im besonderen
Der
Therapiebereich, in welchem die systemtheoretischen Erkenntnisse am
intensivsten aufgenommen wurden, ist die Familientherapie[xiv]. Die Familie ist ein
Gesellschaftssystem mit Strukturen, d.h. Regeln, die bestimmen, was wie zu
sein hat, z.B. wie Kommunikationen oder Handlungen der Systemmitglieder
intern und gegen aussen aussehen dürfen und wie nicht. In einem Prozess
von Kommunikationen und Anschlusskommunikationen werden diese Regeln
genauso verändert wie die Bewussstseinsstrukturen der Systemmitglieder.
Dabei ist - wie oben beschrieben - keine direkte, lineare Beeinflussung möglich.
Nun
ist es so, dass bestimmte unerwünschte Verhaltensweisen eines Klienten
(z.B. Alkohol zu trinken) durch bestimmte Interaktionsregeln im sozialen
System Familie gefördert werden. Die systemische Suchttherapie oder die
systemische Familientherapie versuchen in diesem Fall, in einem ersten
Schritt diese Systemstrukturen zu thematisieren, was eine Reflexion aller
Familienmitglieder darüber ermöglicht. In einem zweiten Schritt wird
angestrebt, diese - zumindest aus Sicht der Therapeutin - unerwünschten
Strukturen zu verändern, resp. durch neue Selektionsanleitungen zu
ersetzen. Berücksichtigen wir das oben Gesagte, wird klar, dass die Veränderung
der Systemstrukturen und damit der Beziehungen zwischen den
Familienmitgliedern immer nur über die Veränderungen der
Bewusstseinsstrukturen dieser Familienmitglieder erreicht werden kann.
Gelingt es der Therapeutin, einzelne oder alle Familienmitglieder dazu
anzuregen, die Wahl ihrer Anschlusskommunikationen in bestimmten
Situationen zu überdenken (reflektieren) und mit der Zeit andere
Selektionen zu treffen, beeinflusst diese Veränderung auch die Strukturen
des sozialen Systems: gewisse Anschlusskommunikationen können nicht mehr
gewählt werden, andere bieten sich eher an.
Zur
Prävention
Doch
verlassen wir das schier endlose Gebiet der Therapie und wenden uns einer
weiteren Domäne der Suchtarbeit zu: der Prävention. Auch sie kann nach
systemtheoretischen Gesichtspunkten beschrieben werden, wobei auffällt,
dass nicht nur Beratung und Therapie, sondern auch die Prävention die Veränderung
der Selektionsstrukturen von sozialen und psychischen Systemen zum Ziel
hat. Das Konzept der Autopoiesis ist gerade darum wichtig, weil es die interne Struktur eines Systems in den Vordergrund stellt und die Umwelteinflüsse auf dieses System von diesen Strukturen abhängig macht. Der Mensch resp. sein psychisches System Bewusstsein ist demnach bezüglich seiner Denk- und Handlungsweise von seiner Umwelt nur so weit beeinflussbar, wie die Bewusstseinsstrukturen dies erlauben. Hier setzt die Suchtprävention ein: Ihre Aufgabe ist es, Strukturen zu schaffen, die es einem jungen Menschen erlauben, Probleme ohne (vermeintliche) Hilfe von Suchtmitteln anzugehen.
Der gestresste Jugendliche
Was das systemtheoretisch ausgedrückt heisst, wollen wir an einem Beispiel eines jungen Mannes darstellen, der an seiner Lehrstelle Probleme hat: Das Bewusstsein des Jugendlichen erhält diverse Informationen mit dem ungefähren Inhalt „Stress an der Lehrstelle“. Wie das Wort „Stress“ deutlich macht, werden mit dieser Information Zusatzinformationen wie „mühsam“, „schwierig“ etc. mittransportiert oder durch den Jugendlichen - basierend auf seinen Bewusstseinsstrukturen - hineininterpretiert. Der Jugendliche hat also - in seiner ihm eigenen Art - die Information „Stress an der Lehrstelle“ verstanden und hat nun die Möglichkeit, aus einer grossen Anzahl von Anschlussmöglichkeiten eine auszuwählen. Welche er auswählt, ist wiederum von seinen Bewusstseinsstrukturen abhängig und mehr (aus der Sicht eines Beobachters, der die Bewusstseinsstrukturen nicht oder kaum kennt) oder weniger (aus der Sicht der Strukturen, welche die Zufälligkeit einschränken) zufällig. Einige Möglichkeiten:
Konzepte
der Suchtprävention
Damit
verlassen wir unser Beispiel und versuchen am Beispiel der illegalen
Drogen zu erörtern, mit welchen Konzepten die Suchtprävention ihr
hautptsächliches Ziel - nämlich die Bewusstseinsstrukturen von Menschen
so zu beinflussen, dass diese Probleme ohne Suchtmittel lösen können -
zu erreichen versucht und wie diese Konzepte aus systemtheoretischer Sicht
aussehen. Als
Ende der 60er-Jahre der zunehmende Konsum von illegalen Drogen in den
westlichen Staaten als Problem empfunden wurde, versuchte man, die
Jugendlichen mit präventiven Botschaften vom Drogenkonsum abzuhalten. Die
Informationen lauteten: „Drogen sind schädlich“, „Drogen töten
dich“ etc.. Diese abschreckenden Informationen sollten sich im
Bewusstsein der Jugendlichen festsetzen und ihr Handeln so beeinflussen,
dass sie keine Drogen mehr nähmen. Systemtheoretisch übersetzt heisst
dass: Das psychische System (Bewusstsein) der Jugendlichen sollte auf eine
Information aus seiner Umwelt (z.B. auf die Frage: „Willst du einen
Joint?“) die Wahl einer günstigen Anschlusskommunikation bewirken wie:
„Nein danke, ich kiffe nicht“. Eine
solche Beeinflussung ist im übrigen das Ziel jeder Erziehung: Erziehung
versucht immer, die Zufälligkeit beim Strukturaufbau im menschlichen
Bewusstsein einzuschränken und damit den Aufbau von bestimmten, aus Sicht
der Erziehenden günstigen Strukturen zu bewirken. Wird dieser
Strukturaufbau nicht willentlich von aussen beeinflusst, sondern erfolgt
als er Resultat von Lebenserfahrungen, spricht die Systemtheorie von
Sozialisation[xv].
Weg
von der Abschreckungsprävention
Wie die Präventionsforschung nachweisen kann[xvi], bewährt sich die Abschreckungsprävention nicht. Aus der Sicht der Systemtheorie ist dieser Befund nicht überraschend, denn eine Information wie „Drogen sind schädlich“ muss viele Hindernisse überwinden, bis sie sich im Bewusstsein eines Menschen als Struktur festsetzen kann. Zum einen sind schon Strukturen vorhanden, die eine Internalisierung der neuen Struktur erschweren, zum andern wird die Information über die Schädlichkeit von Drogen von andern Informationen konkurriert. Einige Beispiele:
Black
box
Anhand
dieser wenigen Beispiele lässt sich zeigen, wie komplex das menschliche
Bewusstsein und seine Handlungsweise ist und wie unendlich viel komplexer
die Beziehungen des psychischen Systems des Menschen zu seiner Umwelt und
den darin enthaltenen Systemen sind. Linearität nach dem Motto „Ich
sage dies, dann geschieht das.“ ist dieser Komplexität in keiner Weise
gewachsen, das hat sich schon bei den obigen Ausführungen zu Beratung und
Therapie gezeigt. Die frühe Theorie geschlossener Systeme, auf der die
moderne Systemtheorie zu einem Teil aufbaut[xvii],
spricht bei sozialen und psychischen Systemen von einer „black box“:
Wenn man einen Input in das System hineingibt, kann nie mit Sicherheit
voraussagen, was als output resultiert. Eltern mit pubertierenden Kindern
können diese Erkenntnis zweifellos nachvollziehen: Die Kinder, die sich
noch vor wenigen Jahren so gut kannten, verändern ihre
Bewusstseinsstrukturen - unterstützt durch ihre soziale, seelische und körperliche
Entwicklung - in einem Mass, das die Eltern nicht mehr nachvollziehen können.
Systemtheoretisch gesprochen: Es ist für die Eltern viel weniger konkret
voraussehbar als früher, welche Anschlusskommunikation ihr Kind auf einen
bestimmten input auswählen (selegieren) wird.
Just
say no?
Für
den Präventionsfachmenschen stellt sich nun die Frage, wie wirkungsvolle
Suchtprävention aussehen soll. Wie wir oben gesehen haben, geht es bei
aller Erziehung darum, dem Kind Richtlinien zu vermitteln, welche die Zufälligkeit
seines Anschlussverhaltens beschränken. Bezüglich der illegalen Drogen
soll der Jugendliche auf die Frage „Willst du einen Joint?“ gewisse
durchaus mögliche Arten des Anschlussverhaltens wie „ja, gerne“ mit höchstmöglicher
Sicherheit verwerfen oder zumindest möglichst selten wählen, wie dies
der kontrollierte Umgang mit Suchtmitteln vorsieht. Das ist das erklärte
Ziel der jeder Drogenprävention. Über die Wege, die zu diesem Ziel führen, scheiden sich die Geister bekanntlich: Die ehemalige First Lady der USA, Nancy Reagan, versuchte es plakativ mit dem Slogan „Just say no!“, ein Schlagwort, welches in der Form „Sag nein zu Drogen!“ in der Schweiz auch heute noch präsent ist. Wir haben oben gesehen, dass eine so simple Information, sich im Bewusstsein eines Menschen kaum festsetzen wird. Dementsprechend wird sie auch sein Verhalten kaum wunschgemäss steuern. Dies schien den Präventionsfachleuten des Bundesamtes für Gesundheit bekannt zu sein, als sie 1993 die Kampagne „Wer gelernt hat, nein zu sagen, kann es auch besser zu Drogen sagen“ lancierten. Diese Information richtet sich bereits mehr an die Erziehenden, ist also quasi eine Erziehung der Erziehenden: sie sollen den Kindern beibringen, wie sie nein sagen können. Nein sagen - dies hat die moderne Pädagogik erkannt - ist eine Eigenschaft, die bei der Gestaltung eines eigenständigen Lebens wichtig ist; sie ist eine Lebenskompetenz.
Die
Förderung von Lebenskompetenzen
Es
gibt auch noch andere Lebenskompetenzen, wie z.B. die Fähigkeit, sich
durchzusetzen, zu streiten, kreativ zu handeln etc.. Die Prävention hat
erkannt, dass die Förderung solcher Lebenskompetenzen bei der Vorbeugung
gegen Suchtmittelmissbrauch eine zentrale Rolle einnimmt. Seit einigen
Jahren wird - durchaus mit Erfolg[xviii]
- versucht, mit entsprechenden Präventionsprogrammen die Hauptzielgruppe
von Suchtprävention zu erreichen: die Jugendlichen. In
letzter Zeit hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass der
Wirkungsgrad von Lebenskompetenzförderungsprogrammen wohl noch gesteigert
werden kann, wenn die Programme früher einsetzen. Das Projekt
„Spielzeugfreier Kindergarten“ über welches das SuchtMagazin 1/97
ausführlich informierte, ist so ein Versuch, die Kinder zu einem
Zeitpunkt mit suchtpräventiven Inhalten zu erreichen, wo sie weder eine
Ahnung davon haben, was Sucht ist, noch in der Gefahr stehen, Suchtmittel
zu konsumieren (was natürlich Ansätze zu süchtigem Verhalten - z.B.
beim Fernsehen - nicht ausschliesst). Aus
der Sicht der Systemtheorie ist es durchaus verständlich, dass Suchtprävention
in der Form der Förderung von Lebenskompetenzen einen höheren
Wirkungsgrad hat, wenn sie früher einsetzt: Je früher - im suchtpräventiven
Sinn - positive Erfahrungen im Bewusstsein der Kinder Selektionsstrukturen
hinterlassen, desto mehr anschliessende Strukturen werden durch sie
beeinflusst. Es ist klar, dass auch - durch die Gesellschaft oder andere
soziale Systeme - positiv bewertete Bewusstseinsstrukturen durch andere
(negativ bewertete) Erfahrungen überlagert oder ersetzt werden können;
aber immerhin sind sie einmal im Bewusstsein vorhanden und haben so die Möglichkeit,
die Auswahl von nachfolgenden Information, Gedanken, Handlungen und
Strukturen des Menschen zu beeinflussen.
„Mami,
mir isch’s langwylig!“
An
einem weiteren Beispiel lässt sich aufzeigen, dass Lebenskompetenzen
nichts anderes sind als Selektionsstrukturen, welche die Auswahl der
Anschlussmöglichkeiten auf bestimmte Umweltinformationen kanalisieren:
Interpretiert ein Kind ein Bündel von Informationen aus seiner Umwelt als
„Langeweile“, eröffnet ihm die Lebenskompetenz „Mit-Langeweile-umgehen-Können“
bestimmte Möglichkeiten für Anschlussgedanken und -handlungen. Die können
lauten: „Ich habe schon lange nicht mehr gezeichnet.“ oder - Traum
aller Eltern -: „Wenn ich schon keine Lust zum Spielen habe, räume ich
mein Zimmer auf, dann habe ich später Ruhe.“ oder einfach: „Die
Langeweile geht schon irgendwie vorbei“. Diese absolut willkürlich
ausgewählten Beispiele geben uns die Möglichkeit zu versuchen, den
Begriff „Lebenskompetenz“ systemtheoretisch zu definieren: z.B. als
durch Sozialisation und/oder Erziehung entstandene Struktur des
psychischen Systems (also: des Bewusstseins) eines Menschen - eine
Struktur, die auf bestimmte Informationen aus der Umwelt bestimmte
Anschlussgedanken und/oder -handlungen anbietet und andere ausschliesst. Bei
einer solchen Definition ist zweierlei zu beachten: Einerseits ist
aufgrund der ungeheuren Zahl von Anschlussmöglichkeiten, die immer noch
bestehen, nie umfassend zu definieren, welche dieser Möglichkeiten denn
genau in der Kompetenz eingeschlossen sind und welche nicht; andererseits
ist auch die Bezeichnung einzelner „geeigneter“ Anschlussmöglichkeiten
immer eine Frage der Wertung, einer Wertung, die in diesem Fall durch Präventionsfachleute
vorgenommen wird und die sich auch verändern kann. Trotzdem:
Wenn die Information „Langeweile“ immer und immer wieder mit der
Anschlusshandlung „Fernseher einschalten“ beantwortet und eine solche
Anschlusshandlung von der Umwelt des Kindes (z.B. dem System Familie)
nicht verhindert wird, kann kaum noch von einer Lebenskompetenz „Mit-Langeweile-umgehen-Können“
die Rede sein.
Strukturelle
Prävention
Führt man den Gedanken „je früher desto besser“ weiter, so stösst man schnell auf eine Form von Suchtprophylaxe, die schon in den 70er-Jahren[xix] erkannt, aber in der Regel mit einem oder zwei Sätzen abgehandelt wurde: die strukturelle Prävention. Wenn wir heute den Kindern im Kindergarten im Rahmen eines Projektes ermöglichen, durch das Spielen ohne Spielsachen bestimmte Lebenskompetenzen zu erwerben oder vorhandene zu fördern, ist es naheliegend, dass eine solche Förderung auch im Alltag erfolgen sollte. Diesbezügliche Vorschläge wie „generelle Verkehrsberuhigung“, „Hinterfragen der Konsummuster der Erwachsenen“, „Werbebeschränkungen“ und was der Utopien noch mehr sind, lösen in der Umwelt des sozialen Systems „Suchtpräventionslehre“ (und vielleicht auch intern) so heftige Reaktionen aus, dass ihre Realisierung nicht möglich erscheint.
Präventionsterminologie
Wenden
wir uns zum Abschluss des Präventionskapitels noch der gängigen
Terminologie in diesem Bereich zu: Seit Ende der 70er-Jahre wird die
Suchtprävention in der Regel in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention
aufgeteilt. Die Primärprävention soll das Gefährdungspotential von
Jugendlichen ggü. Suchtmitteln verringern; die Sekundärprävention hat
zum Ziel, gefährdete Jugendliche vom Konsum dieser Mittel abzuhalten, und
die Tertiärprävention schlussendlich will bereits konsumierende Menschen
vor der (zu häufigen) Wiederholung bewahren oder zumindest bewirken, dass
gewissen Risikominderungen (wie den Gebrauch steriler Spritzen)
vorgenommen werden. Tertiärprävention
Aus
der Sicht der Systemtheorie erscheint zumindest der Begriff der Tertiärprävention
unglücklich, denn er ist kaum von den Begriffen Beratung und Therapie zu
trennen. Jede Beratung und jede Therapie haben ja schlussendlich präventiven
Charakter, denn sie versuchen mittels Strukturveränderungen in sozialen
wie in psychischen Systemen zu bewirken, dass andere Anschlusshandlungen
oder -kommunikationen gewählt werden. Im Falle der Tertiärprävention
wird genau das gemacht. Das ist aber nicht der einzige Punkt: Da das unerwünschte
Ereignis „Drogenkonsum“ bereits erfolgt ist, bleibt der Präventionsaspekt
auf die Wiederholung beschränkt und hebt sich somit nicht mehr von
Beratung und Therapie ab, denn auch diese versuchen, die Wiederholung von
unerwünschten Denk- und Verhaltensweisen zu verhindern.
Sekundärprävention
Bei
der Sekundärprävention präsentiert sich die Sachlage nicht mehr so
eindeutig: Der Terminus „gefährdete Jugendliche“ sagt aus, dass eine
Beobachterin aus der Umwelt des Jugendlichen Symptome zu erkennen glaubt,
die darauf schliessen lassen, dass der Jugendliche über gewisse
Bewusstseinstrukturen verfüge, die den Konsum von Suchtmitteln
wahrscheinlich oder mindestens möglich machen. Das unerwünschte Ereignis
„Drogenkonsum“ ist also noch nicht eingetreten, es ist aber
wahrscheinlich. In diesem Sinn besteht durchaus ein präventiver Aspekt,
der die Sekundärprävention von Beratung und Therapie abhebt, denn diese
werden in der Regel erst in Anspruch genommen, nachdem das unerwünschte
Verhalten aufgetreten ist. Andererseits sind die Mittel dieses Präventionsbereiches
die gleichen wie in Beratung und Therapie: Mit kommunikativen
Interventionen in das psychische System des Jugendlichen und/oder in die
sozialen Systeme, an denen er hauptsächlich teilnimmt, sollen Strukturen
so verändert werden, dass andere Anschlussmöglichkeiten in den
Vordergrund treten. Die Früherfassung an der Schule, die in Luzern
erfolgreich eingeführt worden ist und vielerorts Nachahmung findet[xx],
setzt in erster Linie bei den sozialen Systemen an. Da - wie wir oben
gesehen haben - eine strukturelle Veränderung dieser Systeme nur möglich
ist, wenn die Mitglieder ihre Strukturen vorgängig ändern, hat die
Intervention natürlich auch auf den Jugendlichen einen Einfluss.
Primärprävention
Kommen
wir zu Primärprävention: Hier ist eine deutliche Abgrenzung zu den
Begriffen der Beratung und der Therapie festzustellen, da weder ein
aktuell unerwünschtes Verhalten (in diesem Fall der Suchtmittelkonsum)
noch die explizite Neigung eines Menschen zu einem solchen Handeln
festzustellen sind. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass sich Primärprävention
- im Gegensatz zu Sekundärprävention im Früherfassungssinn - nicht mehr
an konkrete, einzelne Menschen richtet, sondern an Kinder und Jugendliche
allgemein, resp. an Menschentypen, d.h. an sogenannte Zielgruppen. Diese
Abspaltung von Zielgruppen veranlasst zur Überlegung, ob nicht noch eine
weitere Unterteilung der Primärprävention Sinn machen würde. Mit
„Zielgruppe“ ist in der Regel ein Gruppe von Menschen gemeint, die überdurchschnittlich
in Gefahr stehen, irgendwann Strukturen zu entwickeln, die die Auswahl von
unerwünschten Anschlusshandlungen - in diesem Fall die Handlung,
Suchtmittel zu konsumieren - wahrscheinlicher machen. Die Definition einer
solchen Zielgruppe kann aufgrund empirischer Erfahrungen erfolgen. Wenn
z.B. die AbsolventInnen eines bestimmten Schultypus’ gehäuft drogensüchtig
werden, kann Primärprävention gezielt in diesem Bereich ansetzen. Eine
andere, weniger pauschale Zieldefinition wäre möglich, indem - auch auf
der Basis empirischer Erhebungen - gewisse Verhaltensweisen bezeichnet
werden, welche auf Bewusstseinsstrukturen schliessen lassen, welche die
Entwicklung von Strukturen fördern, die die Wahl von unerwünschten
Verhaltensweisen (wie Suchtmittelkonsum) wahrscheinlicher machen.
Für
eine Aufteilung des Begriffes „Primärprävention“
Natürlich:
Der Strukturaufbau von der Geburt bis zur Entwicklung solcher unerwünschter
Strukturen ist fliessend - haben nicht alle Menschen Strukturen in sich,
die süchtiges Verhalten wahrscheinlicher machen? - und eine Zäsur wird
immer willkürlich sein. Trotzdem scheint eine solche Grenze in der Praxis
dienlich, würde sie doch erlauben, höchst unterschiedliche Konzepte der
Primärprävention in zwei Gruppen zu fassen. Die
eine Gruppe würde die Projekte umfassen, die sich an die oben
beschriebenen Zielgruppen richten oder - genereller gefasst - an solche
Projekte, die von der gehäuften Existenz von Bewusstseinsstrukturen
ausgehen, die die Entwicklung von Strukturen fördern, welche den
Suchtmittelkonsum wahrscheinlicher machen. Konkret bieten diese Projekte
Alternativen zu Verhaltensweisen an, die späteren Suchtmittelmissbrauch
begünstigen. Die
zweite Gruppe - bis heute viel weniger angewendet als die erste - umfasst
Bestrebungen, die möglichst früh die Bildung eines grossen Arsenals von
Strukturen fördern, welche den späteren Aufbau von unerwünschten
Strukturen erschweren. In diesem Bereich fällt die strukturelle Prävention
(wie z.B. die Förderung der Elternbildung) und alle
Lebenskompetenzkonzepte. Abschliessende
Bemerkungen
Wir haben versucht, einige der wichtigsten - und bei weitem nicht alle - Grundgedanken der Systemtheorie an drei Bereichen der Suchtarbeit darzustellen. Auch die Beschreibung anderer Teile - z.B. des politischen oder ökonomischen Teils - dieses komplexen Gesellschaftssystemes „Suchtarbeit“ wäre durchaus möglich, was zeigt, wie polyvalent diese Theorie ist. Abschliessend sollen einige dieser Grundgedanken zusammengefasst wiedergegeben werden:
[i] vgl. z.B. Richelshagen (1996); dieses Buch wurde im SuchtMagazin 1/97 vorgestellt. [ii] vgl. dazu die Einleitung von Steiner et. al. (1993, 309ff.) [iii] vgl. Luhmann (1994, 551ff.) [iv] zur Geschichte der Systemtheorie vgl. Kneer/Nassehi (1994, 17ff.) [v] Von der Bedeutung der Strukturen wird weiter unten noch ausführlich die Rede sein. [vi] Das gilt in gleichem Mass für soziale Systeme. [vii] Das gleiche gilt natürlich auch für die Sinnesorgane: Ein blinder Mensch wird nicht reagieren, wenn ich ihm aus einer gewissen Distanz zuwinke - die physischen Voraussetzungen sind dafür nicht gegeben. [viii] vgl. dazu die sehr anschaulichen Schriften von Watzlawick, so 1981. [ix] Wie Luhmann (1994, S. 385) aufzeigt, basiert auch die Verknüpfung (Interdependenz) dieser Strukturen auf Selektionen, da nicht alle mit allen verbunden sein können. [x] Die Aufgabe von Strukuren ist ja, die Selektion von Anschlussmöglichkeiten zu steuern, indem sie gewisse Möglichkeiten ausschliessen und andere damit wahrscheinlicher machen. Diese Selektionsleistung muss relativ stabil sein, denn sonst müsste sie andauernd neu erbracht werden. (vgl. Luhmann, 1994, 385f.) [xi] Das Fehlen einer präzisen Definition darüber, wo Beratung aufhört und Therapie anfängt, ist für viele SozialarbeiterInnen ein praktisches Problem, mit dem sie laufend konfrontiert werden. [xii] Die Lage der Therapiestationen ist nicht der eizige Kritikpunkt an den herkömmlichen Drogentherapien. Vgl. hierzu u.a. Kowalsky (1991, 113ff.) [xiii] zu dieser Thematik vgl. u.a. Willke (199?, 333ff.) [xiv] Steiner et. al. (1993, 314f.) meinen, dass die Rezeption der Theorie von Maturana/Varela bei bestimmten Fragen der Familientherapie nicht genüge; Luhmann habe z.B. auf die zentrale Frage, auf welcher Ebene eine therapeutische Intervention einsetzen soll, weiter entwickelte Antworten. [xv] vgl. Luhmann (1994, 280ff.) [xvi] vgl. u.a. Künzel-Böhmer (1994, 15ff.) [xvii] Kneer, Nassehi, (1994, 19ff.) [xviii] vgl. Künzel-Böhmer (1994, 15ff.) [xix] Zur Geschichte der Suchtprävention vgl. u. a. Hafen (1995, 2ff.) [xx] vgl. dazu Gschwind (1994, 12ff.) |