Fachzeitschrift SuchtMagazin 3/97

 

Systemtheorie - eine Einführung

 

Anhand von drei ausgewählten Gebieten aus der Suchtarbeit - Beratung, Therapie und Prävention - soll versucht werden, einige der Grundgedanken dieser äusserst komplexen Theorie zu erläutern.

 

Martin Hafen

 

Die Suchtarbeit hat, wie die Sozialarbeit generell, mit Menschen zu tun. Süchtige Menschen werden beraten; sie werden therapiert, und es werden Programme entwickelt, um zu verhindern, dass Menschen überhaupt süchtig werden. Nicht nur wer beruflich mit Menschen zu tun hat, weiss, dass diese Menschen nicht isoliert in einer undefinierbaren Welt schweben. Menschen sind Teil einer Familie; sie arbeiten in Firmen oder staatlichen Institutionen; sie gehören Vereinen und politischen Parteien an. Menschen führen Gespräche; sie streiten; sie lieben und sie hassen sich - kurz: Menschen stehen die meiste Zeit ihres Lebens in Kontakt mit andern Menschen; sie sind soziale Wesen.

 

Systemtheorie in Sucht- und Sozialarbeit

 

Es ist naheliegend, dass alle diese vielfältigen Beziehungen auch Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen haben. Da sich Sucht- und Sozialarbeit nicht nur mit Menschen, sondern auch mit deren Verhaltensweisen beschäftigen, ist es für diese Disziplinen von vitalem Interesse, zu erfahren, wie denn diese sozialen Beziehungen und wie sie auf die Menschen einwirken. Die Systemtheorie nach Maturana/Varela und Luhmann (siehe Kasten) liefert das Instrumentarium dafür.

Zwar wird der Begriff „System“ in der Sozialarbeit gerne verwendet, doch eine konsequente Umsetzung der systemtheoretischen Erkenntnisse in die Sozialarbeitstheorie ist bis heute ausgeblieben. Anders bei der Familientherapie: In diesem Bereich der Psychologie - der natürlich auch in der Sozialarbeit und gerade in der Suchtarbeit[i] zum Tragen kommt - spielt die Systemtheorie eine bedeutende Rolle und hat die Arbeit einer grossen Zahl von FamilientherapeutInnen massgeblich beeinflusst.[ii]

Die zahlreichen Schriften des führenden Systemtheoretiker der Gegenwart, Niklas Luhmann, und anderer AutorInnen lassen aber den Schluss zu, dass die Systemtheorie auch für andere Gebiete der sozialen Arbeit äusserst nützliche Hilfestellungen anbietet.

 

Soziale…

 

Bevor wir anhand des Beispieles eines Beratungsgespräches auf weitere Grundgedanken der Systemtheorie eingehen möchten, soll ein zentrales Element dieser höchst komplexen Theorie behandelt werden: die Trennung von sozialen und psychischen Systemen.

Soziale Systeme entstehen aus systemtheoretischer Sicht immer dann, wenn Menschen zusammen kommunizieren. Das grösstmögliche soziale System ist (Welt-)Gesellschaft. Sie vereint alle mögliche Formen von (Unter-)systemen in sich, wobei diese Systeme für ihre Mitglieder immer eine und meistens mehrere Funktionen erfüllen: Das Wirtschaftssystem regelt u.a. den Austausch von Gütern; das Rechtssystem versucht bestimmte Verhaltensregeln zu durchzusetzen; der Kegelklub sorgt für Geselligkeit, und die Beichte soll dem Gläubigen Erleicherung verschaffen. Jeder Mensch gehört immer zur gleichen Zeit mehreren Systemen an - manchen ohne Unterbruch (z.B. als Bürger eines Staates), anderen wiederum nur zu gewissen Zeitpunkten (z.B. einem Stammtischgespräch). Die aufgeführten Beispiele werden in der Systemtheorie[iii] als Gesellschafts- und Organisationssysteme bezeichnet; sie zeichnen sich durch eine ihnen eigene Strukturierung aus. Die konkreten Beziehungen zwischen Menschen, die sich im Rahmen dieser Systeme abspielen, werden Interaktionsysteme genannt. Sie werden uns in der Folge hauptsächlich interessieren.

Jedes Interaktionssystem besteht (wie alle sozialen Systeme) aus Kommunikationen, die sich aneinander reihen; hören diese Kommunikationen auf, existiert auch das System nicht mehr; wir werden dies später am Beispiel des Interaktionssystemes „Beratungsgespräch“ darstellen. Wie jedes System hat auch das Interaktionssystem eine ganz spezifische Umwelt; zu dieser Umwelt gehören - untrennbar mit dem System verbunden - die psychischen Systeme der kommunizierenden Menschen. Diesen Systemen wollen wir uns jetzt zuwenden.

 

…und psychische Systeme

 

Ein anderer Begriff für das psychische System des Menschen ist „Bewusstsein“ - dieser Terminus wird nachfolgend auch mehrheitlich verwendet. Sind es beim Interaktionssystem die Kommunikationen, die sich aneineranderreihen und das System überhaupt begründen, so übernehmen im menschlichen Bewusstsein die Gedanken diese Funktion. Das Bewusstsein ausschalten, heisst in diesem Sinn: aufhören zu denken. Wie schwierig das ist, weiss, wer es versucht hat. Schlussendlich wird das Bewusstsein nicht einmal im Schlaf permanent ruhig gestellt.

Der Umstand, dass sich soziale und psychische Systeme selbst herstellen, indem sie ihre Elemente (die Gedanken resp. Kommunikationen) immer wieder erneuern und ihre Strukturen[v] anpassen, wird in der Systemtheorie mit dem Begriff Autopoiesis umschrieben. Autopoietische Systeme sind einerseits geschlossen, d.h. sie können nicht linear beeinfluss werden; andererseits sind sie gleichzeitig offen, da sie auf den Austausch von Informationen mit ihrer Umwelt angewiesen sind.

Auf das Bewusstsein bezogen bedeutet das folgendes: Die Informationen aus der Umwelt - z.B. das, was wir hören, sehen, schmecken usw. - beeinflussen die Art und Weise, in der unsere Gedanken reproduziert werden. Welche dieser Informationen ausgewählt und wie sie interpretiert werden, wird genauso durch die Bewusstseinsstrukturen beeinflusst wie die Wahl der Reaktion, die diese Informationen bewirken. Da diese Strukturen von aussenstehenden Person oder Systemen bestenfalls erahnt werden können, kann von aussen auch nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden, wie ein psychisches System auf eine bestimmte Information reagieren wird[vi]. In dieser Hinsicht sind die Gedanken wirklich so frei, wie es das alte Kinderlied verkündet; mit der Einschränkung vielleicht, dass der Grad ihrer Freiheit durch die Bewusstseinsstrukturen bestimmt wird.

 

Die Umwelt psychischer und sozialer Systeme

 

Systeme in unserem Sinn sind auch dadurch charakterisiert, dass sie sich von allem anderen abheben. Diese andere wird als „Umwelt“ bezeichnet, wobei diese Umwelt selbst aus unzähligen Systemen besteht, die für das bezeichnete System eine mehr oder weniger grosse Rolle spielen. In diesem Sinn befinden sich die Bewusstseinssysteme der Mitglieder eines sozialen Systems in dessen Umwelt, und das soziale System ist Teil der Umwelt der Bewusstseinssysteme. Wir werden später noch auf diesen Punkt zurückkommen.

Ein Bereich der Umwelt ist für beide Systeme die physische Umwelt. Wie die Operationen des Bewusstseins ablaufen, ist z.B. durch das Gehirn entscheidend vorbestimmt. Eine Schädigung des Gehirns - z.B. infolge Sauerstoffmangels bei der Geburt - bewirkt, dass die Operationen des Bewusstseins unter anderen Voraussetzungen ablaufen, als wenn keine Schädigung vorliegt. Aber auch die natürliche, genetisch vorgegebene Reifung des Gehirns beeinflusst die Art und Häufigkeit der Operationen, also der Gedanken[vii].

Wir gehen also davon aus, dass die physische Umwelt des Bewusstsein, das Gehirn, die Voraussetzungen zur Reproduktion unserer Gedanken bereit stellt. Jetzt ist bekannt, dass diese physischen Voraussetzungen bei den (gesunden) Menschen identisch oder zumindest sehr ähnlich sind. Trotzdem denken die Menschen sehr verschieden; sie sprechen andere Sprachen, und sie verhalten sich anders - kurz: die Gedanken, die in den psychischen Systemen verschiedener Menschen reproduziert werden, unterscheiden sich. Dieser Unterschied liegt zu einem grossen Teil darin begründet, dass Menschen erstens nicht den gleichen Informationen ausgesetzt sind, zweitens die Informationen nicht auf die gleiche Weise auswählen und drittens aufgrund dieser Informationen unterschiedliche Strukturen entwickeln, die wiederum die Wahl neuer Informationen und Gedanken beeinflussen. Die Art und Weise, mit der diese Strukturen entwickelt werden, unterscheidet sich jedoch nicht: Sie werden erlernt. Genauso wie wir eine Sprache erlernen, lernen wir unzählige andere Dinge. - Von der Geburt an, entstehen im menschlichen Bewusstsein unablässig neue Strukturen, die die Auswahl neuer Informationen und die Reproduktion der Gedanken beeinflussen.

 

Was ist Realität?

 

Bevor wir zu unserem Beispiel kommen, gilt es anzumerken, dass beim Austausch von Informationen zwischen dem psychischen System und seiner Umwelt noch eine weitere physische Komponente eine Rolle spielt: Die Reize, die unsere Sinnesorgane aufnehmen, werden durch die Nerven in elektronische Impulse umgewandelt, ins Gehirn transportiert und dort in das umgeformt, was wir zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken oder zu spüren glauben. „Glauben“ deshalb, weil alle diese Sinneindrücke unsere individuelle Interpretation von dem ist, was wir z.B. sehen. Unser Auge liefert, um bei diesem Beispiel zu bleiben, sozusagen eine Hypothese des Angeschauten, eine Hypothese, die wir dann - auch aufgrund unserer bestehenden Bewusstseinsstrukturen und der momentanen Situation - als „Realität“ interpretieren[viii]. Diese vor allem durch die Theorie des (radikalen) Konstruktivismus formulierte „Realitätsdefinition“ findet in der Theorie der autopoietischen Systeme ihre Bestätigung: Dem über das Nervensystem übertragene Bild wird ein Gedanke zugeordnet, wobei zu beachten ist, dass jeder Gedanke immer einen von vielen möglichen darstellt. Er macht das Gesehene bestimmbar und schafft so die Möglichkeit für einen Anschlussgedanken oder - gegen aussen - für eine Anschlusshandlung. Diese Selektion - und dies ist eine tragende Komponente der Systemtheorie - ist gleichbedeutend mit einer Reduktion der Komplexität der Umwelt, eine Reduktion, ohne die wir nicht handlungsfähig wären, denn wir können ja nie alle möglichen Gedanken denken und auf alle möglichen Arten handeln, sondern müssen uns beschränken.

 

Ein Beratungsgespräch aus systemtheoretischer Sicht

 

Versuchen wir die beschriebenen theoretischen Grundsätze an einem Beispiel zu veranschaulichen und weitere auszuführen: Eine junge Frau tritt in des Aufnahmezimmer einer Suchtberatungsstelle, in welchem eine Sozialarbeiterin sitzt - ein Interaktionssystem „Beratungsgespräch“ ist entstanden. Nächste (strukturell gekoppelte) Umwelt dieses Systems sind die Bewusstseinsysteme  der beiden Frauen; ohne sie würde das soziale System nicht existieren. Auch in der weiteren Umwelt gibt es Systeme oder Tatsachen, die unser soziales System betreffen: So ist das Gespräch Teil des Organisationssystemes Suchtberatungsstelle; die Sozialarbeiterin kann also ziemlich sicher sein, dass die junge Frau bei ihr keine Ferienreise auf die Malediven buchen will, sondern dass sie Fragen oder Probleme hat, die mindestens zum Teil mit dem Thema Sucht zu tun haben. Die zentralen Elemente dieses sozialen Systems sind Kommunikationen, die direkt oder indirekt mit diesen Fragen zu tun haben. Vom System her gesehen reihen sich diese Kommunikationen aneinander, und das System wird nur so lange existieren, wie diese Aneinanderreihung erfolgt. In einem Beratungsgespräch erfolgt der Abbruch in der Regel durch die Gesprächsbeendigung und das Auseinandergehen der Gesprächsteilnehmenden; es wäre aber in unserem Fall durchaus auch möglich, dass die Klientin z.B. nicht aufgrund eigener Probleme, sondern wegen ihres Bruders gekommen ist, da sie die Sozialarbeiterin privat kennt und dass die beiden nach Auflösung des Interaktionssystems „Beratungsgespräch“ eine Unterhaltung über gemeinsame Bekannte beginnen und so ein neues Interaktionssystem entstehen lassen.

 

Vor- und andere Urteile

 

Doch bleiben wir in unserem Beratungsgespräch: Sieht unsere Sozialarbeiterin die Klientin zu ersten Mal, wird sie sich gedanklich mehr oder weniger schnell mit der Frau beschäftigen. Wenn sie z.B. noch zwei, drei Sätze vom Protokoll der morgendlichen Sitzung zu Ende schreiben muss, wird sie ihr mit einer kurzen Bemerkung einen Stuhl zuweisen und sich gedanklich wieder ihrem Papier zuwenden, wobei die Strukturen ihres Bewusstsein diese Auswahl ihres Verhaltens auf eine relativ überschaubare Menge von Möglichkeiten einschränken werden: Die strukturelle Komponente „Anstand“ wird es ihr z.B. verbieten, ohne Erklärung eine halbe Stunde über ihr Blatt Papier gebeugt zu bleiben.

Wenn die Sozialarbeiterin ihre Arbeit erledigt hat, wird sie ihre Gedanken der Klientin zuwenden; sie macht sich mit ziemlicher Sicherheit ein „erstes Bild“ von ihr, d.h. sie wählt Gedanken aus, die das beschreiben, was sie zu sehen vermeint - z.B: „Frau, knapp 20, sympathisch, müde etc.“ oder „Frau, unsicher, sicher eine Fixerin etc.“. Welche Gedanken sie auswählt, ist, wie wir gesehen haben, von verschiedenen Faktoren abhängig: Gesprächssituation, psychische Verfassung, Art der nervlichen Impulse, Bewusstseinstruktur etc..

Je differenzierter dieses Bild ist, desto mehr Anschlussmöglichkeiten eröffnet es. In diesem Umstand liegen Vorurteile begründet: Sie ermöglichen die Limitierung der Anschlussgedanken oder -handlungen auf eine kleinere Zahl, was einer (vermeintlichen) Erleichterung von Denken und Handeln gleichkommt. Um einen allfälligen Wertungsgehalt dieser Ausführungen auszuschliessen: Das Wort Vorurteil meint im täglichen Sprachgebrauch vor allem die negativen Aussagen wie „Jugoslawen sind brutal.“. Ein Satz wie „Jugoslawen sind hilfsbereit“ ist schlussendlich das Gleiche wie ein „Vorurteil“ - eine (übermässige) Reduktion von Komplexität; eine Vereinfachung, die in dieser Form nicht aufgrund von persönlicher Erfahrung entstehen konnte.

 

Professionalität

 

In Bezug auf unser Gespräch ist davon auszugehen, dass die Art und Weise, in der die Sozialarbeiterin denkt und vor allem kommuniziert, stark durch ihre Berufsausbildung und -erfahrung beeinflusst ist. „Durch die Berufsausbildung beeinflusst“ heisst in diesem Fall: Die Auswahl der Anschlussgedanken im psychischen System und der Anschlusskommunikationen im sozialen System ist im Bewusstsein so vorstrukturiert, wie es der Ausbildner oder die Fachliteratur für richtig erachteten, wobei diese Inhalte natürlich immer noch den Auswahlfilter im Bewusstsein der Sozialarbeiterin passieren mussten. Vielleicht sind es aber eher die vielfältigen Erfahrungen, die die Frau in ihrem Beruf gemacht hat, die die Strukturen massgebend bestimmt haben. Wie dem auch sei: Die Frau wird bestimmte Anschlusskommunikation auswählen, die andere Menschen in der gleichen Situation nicht unbedingt wählen würden; das macht ihre Professionalität aus. So wird sie eine Vorstellung davon haben, wie sie das Beratungsgespräch strukturieren will oder sie wird es sich  - um ein anderes Beispiel zu nehmen - verkneifen, der Klientin hauptsächlich von den privaten Problemen zu erzählen, die sie momentan belasten.

Je grösser die Berufserfahrung der Sozialarbeiterin ist, desto mehr Automatismen werden ihr zur Verfügung stehen - also Strukturen, die ihr helfen, die verschiedenen Selektionen, die Laufe der Kommunikation zu auszuführen sind, möglichst akurat zu treffen.

 

Selektion als Voraussetzung von Kommunikation

 

Dieser Selektionsreihe wollen wir uns als nächstes zuwenden: Während die Klientin spricht, selegiert die Sozialarbeiterin die Mitteilung, wobei diese Selektion nicht zwangsläufig die Worte und Sätze der Klientin betreffen muss; es kann auch deren Körperhaltung, Gestik, Mimik, Betonung sein, welche durch das Bewusstsein ausgewählt werden. Ist die Mitteilung selegiert, wird die Information ausgewählt, die in der Mitteilung enthalten ist. Aus dem Satz „Eigentlich habe ich mit dem Folienrauchen kein Problem, aber mein Freund meint, ich solle zu Ihnen kommen.“ können durch aus verschiedene Informationen ausgewählt werden: Wählt die Sozialarbeiterin die Information aus, die der Mitteilung entspricht, so könnte ihre Anschlusskommunikation lauten: „Wenn Ihr Freund ein Problem hat, soll doch er vorbeikommen.“; selegiert sie aber die Information, dass sich die Frau etwas vormacht, wird sie vielleicht antworten: „Was gibt Ihnen die Gewissheit, dass Sie keine Probeme mit dem Folienrauchen haben?“

Damit haben wir schon zwei weitere Selektionen vorweggenommen: Nachdem die Sozialarbeiterin - aus ihrer eigenen Sicht! - „verstanden“ hat, was die Klientin gemeint hat, wählt auch die Sozialarbeiterin zuerst eine Information und dann die Art der Mitteilung aus, mit der diese Information transportiert werden soll.

Zu dieser wechselseitigen Auswahl von Information, Mitteilung durch Sprecherin und Hörerin, die Teil jeder Kommunikation sind, kommt als weiteres leitendes Kommunikationsprinzip die Verstehenserwartung dazu: Die Sozialarbeiterin wird - wie die Klientin natürlich auch - ihre Information so mitzuteilen versuchen, dass das Gegenüber sie so versteht, wie das beabsichtigt ist.

Dieses Verstehen ist nicht selbstverständlich, denn das Mitteilen einer Information mittels Sprache, Schrift oder auch Gesten beinhaltet, wie wir gesehen haben, immer die Möglichkeit, dass die Hörerin die gewählte Information nicht versteht oder Informationen hineininterpretiert, die von der Sprecherin gar nicht mitgeteilt werden wollten.

 

Die Ungewissheit der Wirkung

 

Hat die Klientin die Information so verstanden, wie sie gemeint war, stellt sich die Frage, ob sie auch bereit ist, sich davon beeindrucken zu lassen, also so zu handeln, wie es sich die Sozialarbeiterin das vorgestellt hat. Ob diese Bereitschaft mit der Mitteilung erreicht werden kann, hängt wiederum von den Bewusstseinsstrukturen der Klinentin ab, von ihren Erfahrungen, Zielen und Wünschen. Sie legt also die Kriterien fest, die erfüllt sein müssen, damit es sie so handelt, wie die Beraterin es will. Für diese stellt sich dementsprechend die Frage, wie diese Kriterien aussehen. Alles was sie tun kann, ist, Reaktionsweisen der Klientin anzunehmen und diese auszutesten, in der Hoffnung, mit der Zeit ein immer präziseres hypothetisches Modell der Operations-, d.h. Denk- und Handelsweise der Klientien zu erhalten. Dieses Modell soll die Chance erhöhen, dass ihre Kommunikation ihr Ziel erreicht, also die erwartete Handlung, resp. Anschlusskommunikation der Klientin bewirkt.

 

Beide haben Kommunikationsziele

 

Nehmen wir an, die Klientin ist mit dem Ziel gekommen, von der Beraterin die Bestätigung zu erhalten, dass sie durchaus in der Lage sei, kontrolliert mit gerauchtem Heroin umzugehen. Dieses Ziel, welches kaum offen deklariert werden wird, bildet zusammen mit der Sicherheit, wirklich keine Probleme mit Heroinrauchen zu haben, eine Bewusstseinsstruktur, die das Selektionsverhalten (und damit das Kommunikationsverhalten) der Klientin massgeblich beeinflusst. Mit ihrer Gegenfrage leitet die Beraterin ihren Versuch ein, diese Strukturen - die Motive und Hintergründe oder unbewusste Probleme - so weit erfahren zu können, dass in der Lage ist, gegebenenfalls ein Interventionsziel zu formulieren. Diese Intervention wird nichts anderes sein als der Versuch, die Bewusstseinsstrukturen der Klientin in einer bestimmten Weise zu verändern. Eine solche Veränderung könnte die Erkenntnis sein, dass sie den Heroinkonsum doch nicht so selbständig gestalten kann, wie sie das vorher gemeint hat.

 

Die Schwierigkeit der Strukturveränderung

 

Eine solche Stukturveränderung zu erreichen, ist nicht einfach. Eine einfache Handlungsaufforderung wie der Rat: „Rauchen Sie kein Heroin mehr, das ist schädlich!“ wird die Klientin kaum von ihrer Sucht befreien. Alle Bewusstseinstrukturen werden einem chronologischen Prozess erworben, sie sind miteinander verknüpft[ix], und zudem sind sie auch potentiellen Veränderungenausgesetzt, wobei diese nicht einfach zu erreichen sind[x]. Die Heroinraucherin hat also mit Sicherheit nicht bloss die Erstkosum-Erfahrung „Geil, jetzt rauche ich noch oft Heroin, das ist ja total gut eingefahren!“ oder ähnlich und eine entsprechende Bewusstseinsstruktur daraus abgeleitet. Ein solches Aha-Erlebnis ist zwar durchaus möglich, es basiert aber auf undefinierbar vielen vorgängigen Erlebnissen und Erfahrungen. Diese Erfahrungen sind zum einen abgespeichert worden und können abgerufen werden; zum andern haben sie die Bildung von Strukturen bewirkt, die zur Auswahl von Informationen aus der Umwelt und aus dem Bewusstsein (Gedächtnis) verwendet werden.

Auf unser Beispiel bezogen ist zu beachten, dass nur sehr wenige Menschen einmal in ihrem Leben Heroin rauchen, und noch viel weniger tun es wiederholt. Systemtheoretisch gesprochen: Sehr wenige Menschen haben Bewusstseinsstrukturen, welche sie unter bestimmten Voraussetzungen - z.B. bei einem Angebot von Rauchheroin - den Gedanken auswählen lassen, jetzt Heroin probieren zu wollen.

Eine Intervention im Sinne einer ambulanten Beratung, versucht nun - basierend auf der Vermutung, wie die Denkweise der Klientin aussieht - diese Bewusstseinsstrukturen zu verändern. Dies geschieht einerseits dadurch, dass die Strukturen in Worte gefasst und damit für die Klientin besser erfahrbar und damit hinterfragbar werden; andererseits wird die Beraterin versuchen, der Klientin Alternativen anzubieten, also Strukturen, welche in bestimmten Situationen andere Anschlussmöglichkeiten begünstigen. Doch dazu später.

 

Von der Beratung zur Therapie

 

Da es in diesem Artikel in erster Linie darum geht, die systemtheoretische Erklärung für das darzustellen, was wir als Kommunikation bezeichnen, und nicht um die Inhalte dieser Kommunikation, verlassen wir an dieser Stelle unser Beispiel des Interaktionssystems „Beratungsgespräch“ und ziehen einen Bogen zu zwei andern Gebieten der Suchtarbeit: der Therapie und der Prävention. Dieses Vorgehen soll dazu dienen, einen entscheidenden Sachverhalt zu illustrieren: Nicht nur in der Suchtberatung auch in der Therapie und Prävention geht es um Kommunikation - Kommunikation, die zum Ziel hat, die Bewusstseinsstrukturen so zu gestalten, dass die Gedanken- und Handlungsselektionen möglichst vorstellungsgerecht ausfallen.

Eine Therapie macht in diesem Sinn nichts anderes als eine Beratung[xi], nur greift sie tiefer. Anhand von drei kurz angerissenen Beispielen aus dem immensen Repertoire von therapeutischen Interventionsmöglichkeiten soll der systemtheoretische Ansatz näher beleuchtet werden.

 

Psychotherapie

 

Die traditionelle Psychotherapie versucht, die massgeblichen Gründe für ein bestimmtes Verhalten herauszuschälen. Die Therapeutin ist also bestrebt - via den Weg der mündlichen Kommunikation und den damit verbundenen Verstehenserschwernissen - eine Vorstellung davon zu bekommen, welche Ereignisse im Lebenslauf der Klientin Bewusstseinsstrukturen bewirkt haben, die für ganz bestimmte, wohl als behindernd empfundene Denk- oder Handlungsweisen ihrer Klientin verantwortlich sind. Die Schwierigkeit dabei ist, dass kausale Linearität praktisch ausgeschlossen ist. Es wird kaum möglich sein, ein Ereignis z.B. in der Kindheit der Klientin zu finden, welches direkt für die zu behandelnden Denk- oder Verhaltensmuster verantwortlich ist. Wenn ein wichtiges Ereignis stattfand, ist davon auszugehen, dass es Selektionsstrukturen im Bewusstsein hinterlassen hat, die auch auf die Bildung von folgenden Selektionsstrukturen ihren Einfluss (gehabt) haben. Alle dieser Strukturen wählen neben Gedanken ja auch Handlungen (z.B. verbale Kommunikationen) aus, und die haben in der Regel Anschlusskommunikationen zur Folge, die als Umwelteinfluss vom psychischen System (Bewusstsein) aufgenommen und verarbeitet werden müssen. Was entsteht, ist ein extrem komplexes Geflecht von Selektionsanordnungen - Selektionsanordnungen, die sowohl in ihrer Entstehensgeschichte als auch in ihrer alltäglichen Funktionsweise voneinander abhängig sind. Erschwerend kommt dazu, dass das menschliche Gehirn die Eigenschaft hat, die meisten diese Strukturen so abzuspeichern, dass ihre Anwendung dem Menschen nicht bewusst ist.

 

„Entschuldigung!“

 

Ein kleines Beispiel: Wenn ich aus Versehen einen Menschen anremple, sage ich reflexartig „Entschuldigung“, da ich irgendwann die Struktur internalisiert habe, eine Entschuldigungshandlung zu selegieren, wenn so etwas passiert. Ein Rollstuhlfahrer hat mir einmal erzählt, dass es oft vorkomme, dass ein Mensch, dem er von hinten in die Beine gefahren sei, sich brüsk umdrehe, um sich dann - nachdem er erkannt hat, wer ihn gestossen hat - selbst zu entschuldigen. Die Struktur, die eine „normale“ Reaktion wie „He, passen Sie doch auf!“ ausgewählt hätte, wird durch die Umweltinformation „Rollstuhlfahrer“ von ihrer Selektion abgehalten. Stattdessen wird eine andere Struktur aktiviert, nämlich: „Zu behinderten Menschen muss ich rücksichtsvoll sein.“; sie selegiert die Entschuldigungshandlung, obwohl diese - zumindest von aussen betrachtet - „unvernünftig“ ist. 

Doch kehren wir zu unserem vorangehenden Gedanken zurück: Die Psychotherapeutin ist im Gegensatz zu der Beraterin speziell dafür geschult, möglichst tief in dieses dreidimensionale Geflecht von Bewusstseinsstrukturen vorzudringen und die einzelnen Strukturen möglichst genau zu interpretieren. Trotzdem machen beide das Gleiche: Sie versuchen, die unerwünschten Selektionsstrukturen zu deaktivieren. Dies kann - wie in der Psychotherapie - dadurch geschehen, dass die lange Zeit verborgenen Denkmuster durch verbale Kommunikation der Klientin bewusst gemacht werden. Es ist aber auch möglich, die Selektionsstrukturen ausser Kraft zu setzen, indem neue, gewünschte Strukturen vermittelt und durch die Klientin erlernt werden.

 

Die stationäre Drogentherapie

 

Eine stationäre Drogentherapie - um zu unserem zweiten Beispiel zu kommen -  arbeitet in der Regel eher nach diesem Muster. In vielen Therapiestationen ist z.B. die Frage der Nähe und der Distanz zu den Mitmenschen ein zentrales Thema. Viele KlientInnen haben das Problem, dass sie sich emotional nicht so auf einen Menschen einlassen können, wie dies zum Aufbau einer auf gegenseitigem Vertrauen basierenden Beziehung notwendig wäre. Anderen wiederum gelingt es nicht, diese Nähe zu begrenzen; sie können sich nicht abgrenzen - wie man sagt -, und dies erschwert eine tragfähige Beziehung in der Regel nicht weniger. In den meisten stationären Therapien geht es nun auch, aber nicht in erster Linie darum, mittels Therapie zu den Bewusstseinstrukturen oder zu den sie begründenden Ereignissen vorzustossen. Vielmehr soll versucht werden, neue Strukturen zu erlernen, die den andern vorgezogen werden. Das heisst: Auf bestimmte Umwelteinflüsse hin sollen andere Anschlusskommunikation ausgewählt werden. Um diese Strukturen zu erlernen, müssen sie geübt werden, und das geschieht sowohl im stationären Alltag als auch an speziell dafür geschaffenen Anlässen wie z.B. Psychodrama-Sitzungen.

 

Weg von der Szene - weg von der Realität?

 

Um diese Lernprozesse zu fördern, kreieren die meisten stationären Langzeittherapien eine ganz besondere Umwelt. Sie sind oft in abgelegenen Gegenden errichtet, und meist wird der kommunikative Kontakt zur Umwelt des sozialen Systems „Therapiestation“, welches seinerseits zur Umwelt des Bewusstsein der KlientInnen gehört, zu Beginn der Therapie erschwert oder untersagt. Das Ziel dieser Massnahmen ist klar: Einflüsse dieser äusseren Umwelt auf das psychische System des frisch eingetretenen Klienten sollen - zumindest für gewisse Zeit - ausgeschaltet werden, damit sie das Erlernen neuer Bewusstseinsstrukturen nicht untergraben können.

Diese künstliche Veränderung der Umwelt von Therapie-KlientInnen ist nicht unumstritten: Wie wir oben gesehen haben ist das Lernen und das Aktivieren von neuen Bewusstseinsstrukturen untrennbar mit der Umwelt verbunden. Wenn die Therapierten das beschützende Umfeld der Station verlassen habern, werden sie mit eine andere Umwelten konfrontiert - Umwelten, in denen sich die neu erlernten Bewusstseinsstrukturen unter anderen Voraussetzungen bewähren müssen.[xii]

 

Die systemische Therapie im allgemeinen...

 

Während die stationäre Drogentherapie zumindest in der ersten Phase vor allem versucht, die Umwelt so zu gestalten, dass sie den Therapieprozess nicht stört, ist es der systemischen Therapie ein Anliegen, die Beziehung der KlientInnen zu dieser Umwelt neu zu formieren. Da in diesem Heft noch detailliert auf die systemische Therapie eingegangen wird, seien nur einige wenige Gedanken erlaubt.

Basierend auf der Theorie autopoietischer, also sich selbst erzeugender, autonomer Systeme konzentriert sich die systemische Therapie weniger auf das Bewusstsein des Menschen und dessen Strukturen. Vielmehr nimmt es sich den sozialen Systemen an, denen die KlientInnen angehören. Diese sozialen Systeme heben sich von ihrer Umwelt ab, indem sie die internen Beziehung und die Beziehungen zu Umwelt basierend auf einer bestimmten Struktur regeln, wobei zu beachten ist, dass sich das System immer so strukturiert, dass es - zumindest aus der gesammelten Sicht seiner Mitglieder - optimal an diese Umwelt angepasst ist[xiii].

Die Bewusstseinsysteme der Mitglieder des sozialen Systems sind - wie wir gesehen haben - nicht direkt im System integriert, sondern nur als sehr eng verbundene (strukturell gekoppelte) Umwelt vorhanden. Das bedeutet zweierlei: Einerseits ist das soziale System ohne diese Umwelt der Bewusstseinsysteme genau so wenig lebensfähig wie die Bewusstseinssysteme ohne die Umwelt; andererseits besteht trotz diesem Aufeinander-angewiesen-Sein eine gewisse Unabhängigkeit beider Systemarten von ihrer jeweiligen Umwelt: Wie wir weiter gesehen haben, wählt das Bewusstsein aufgrund seiner Strukturen gewisse Anschlussgedanken (intern) und gewisse Anschlusskommunikation (gegen aussen) aus und andere nicht. Das soziale System verhält sich identisch. Auch hier beeinflussen die Strukturen die Wahl der systeminternen und -externen Anschlusskommunikationen, indem sie vorgeben, welche Anschlusskommunikationen möglich sind und welche nicht. Und auch diese Strukturen sind - wie die Bewusstseinsstrukturen - beeinflussbar durch Umwelteinflüsse, d.h. Einflüsse, die von andern sozialen Systemen oder den psychischen Systemen herrühren.

 

…und die Familientherapie im besonderen

 

Der Therapiebereich, in welchem die systemtheoretischen Erkenntnisse am intensivsten aufgenommen wurden, ist die Familientherapie[xiv]. Die Familie ist ein Gesellschaftssystem mit Strukturen, d.h. Regeln, die bestimmen, was wie zu sein hat, z.B. wie Kommunikationen oder Handlungen der Systemmitglieder intern und gegen aussen aussehen dürfen und wie nicht. In einem Prozess von Kommunikationen und Anschlusskommunikationen werden diese Regeln genauso verändert wie die Bewussstseinsstrukturen der Systemmitglieder. Dabei ist - wie oben beschrieben - keine direkte, lineare Beeinflussung möglich.

Nun ist es so, dass bestimmte unerwünschte Verhaltensweisen eines Klienten (z.B. Alkohol zu trinken) durch bestimmte Interaktionsregeln im sozialen System Familie gefördert werden. Die systemische Suchttherapie oder die systemische Familientherapie versuchen in diesem Fall, in einem ersten Schritt diese Systemstrukturen zu thematisieren, was eine Reflexion aller Familienmitglieder darüber ermöglicht. In einem zweiten Schritt wird angestrebt, diese - zumindest aus Sicht der Therapeutin - unerwünschten Strukturen zu verändern, resp. durch neue Selektionsanleitungen zu ersetzen. Berücksichtigen wir das oben Gesagte, wird klar, dass die Veränderung der Systemstrukturen und damit der Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern immer nur über die Veränderungen der Bewusstseinsstrukturen dieser Familienmitglieder erreicht werden kann. Gelingt es der Therapeutin, einzelne oder alle Familienmitglieder dazu anzuregen, die Wahl ihrer Anschlusskommunikationen in bestimmten Situationen zu überdenken (reflektieren) und mit der Zeit andere Selektionen zu treffen, beeinflusst diese Veränderung auch die Strukturen des sozialen Systems: gewisse Anschlusskommunikationen können nicht mehr gewählt werden, andere bieten sich eher an.

 

Zur Prävention

 

Doch verlassen wir das schier endlose Gebiet der Therapie und wenden uns einer weiteren Domäne der Suchtarbeit zu: der Prävention. Auch sie kann nach systemtheoretischen Gesichtspunkten beschrieben werden, wobei auffällt, dass nicht nur Beratung und Therapie, sondern auch die Prävention die Veränderung der Selektionsstrukturen von sozialen und psychischen Systemen zum Ziel hat.

Das Konzept der Autopoiesis ist gerade darum wichtig, weil es die interne Struktur eines Systems in den Vordergrund stellt und die Umwelteinflüsse auf dieses System von diesen Strukturen abhängig macht. Der Mensch resp. sein psychisches System Bewusstsein ist demnach bezüglich seiner Denk- und Handlungsweise von seiner Umwelt nur so weit beeinflussbar, wie die Bewusstseinsstrukturen dies erlauben. Hier setzt die Suchtprävention ein: Ihre Aufgabe ist es, Strukturen zu schaffen, die es einem jungen Menschen erlauben, Probleme ohne (vermeintliche) Hilfe von Suchtmitteln anzugehen.

 

Der gestresste Jugendliche

 

Was das systemtheoretisch ausgedrückt heisst, wollen wir an einem Beispiel eines jungen Mannes darstellen, der an seiner Lehrstelle Probleme hat: Das Bewusstsein des Jugendlichen erhält diverse Informationen mit dem ungefähren Inhalt „Stress an der Lehrstelle“. Wie das Wort „Stress“ deutlich macht, werden mit dieser Information Zusatzinformationen wie „mühsam“, „schwierig“ etc. mittransportiert oder durch den Jugendlichen - basierend auf seinen Bewusstseinsstrukturen - hineininterpretiert. Der Jugendliche hat also - in seiner ihm eigenen Art - die Information „Stress an der Lehrstelle“ verstanden und hat nun die Möglichkeit, aus einer grossen Anzahl von Anschlussmöglichkeiten eine auszuwählen. Welche er auswählt, ist wiederum von seinen Bewusstseinsstrukturen abhängig und mehr (aus der Sicht eines Beobachters, der die Bewusstseinsstrukturen nicht oder kaum kennt) oder weniger (aus der Sicht der Strukturen, welche die Zufälligkeit einschränken) zufällig. Einige Möglichkeiten:

  • Erstes Beispiel: Der Jugendliche beschliesst, mit seinem Lehrmeister zu reden. Dieser Beschluss fusst vielleicht auf einer guten Erfahrung, die er gemacht hatte, als er bei Schulproblemen den Kontakt zu einem verständnisvollen Lehrer suchte und bei ihm Verständnis und Unterstützung fand; vielleicht basiert er aber auch auf seiner generellen Zuversicht (=Bewusstseinsstruktur), selbst etwas bewegen zu können. Wie wir oben gesehen haben, wird eine solche positive Erfahrung kaum isoliert auftreten; vielmehr wird sie verknüpft sein mit einer Reihe auf ihr aufbauender ähnlicher Erfahrungen.

  • Zweites Beispiel: Er beschliesst, Hilfe bei seinen Eltern zu suchen - eine Entscheidung, die wiederum auf Erfahrungen beruht, dass er von diesen Hilfe bekommen kann, wenn er sie benötigt. Dieses Vertrauen ist gleichbedeutend mit einer Reduktion von Komplexität und erleichtert das Zusammenleben bedeutend, denn der Jugendliche kann gewisse - durchaus mögliche - andere Anschlusskommunikationen ausschliessen wie „Wir stecken dich ins Heim!“; „Du bist ein Versager!“, „Reiss dich endlich einmal zusammen!“ etc.. Könnte er diese Anschlusskommunikationen aufgrund seiner Erfahrung nicht ausschliessen, würde er mit seinem Problem kaum zu seinen Eltern gehen.

  • Drittes Beispiel: Der Jugendliche weicht dem Problem aus und denkt: „Es ist eh alles wurscht.“. Dieser Anschlusskommunikation können weitere folgen: Der Jugendliche macht blau, und er versucht seine Sorgen „zu vergessen“, d.h. er ist bestrebt, die Information „Stress an der Lehrstelle“, die er unwiderruflich verstanden hat, die also in seinem psychischen System vorhanden ist, zu verdrängen. Da ihm die Struktur seines Gehirns, welches wie wir wissen zur Umwelt seines Bewusstseins gehört, anders als bei einem traumatischen Erlebnis nicht helfen wird, diese Verdrängung zu bewerkstelligen, ist es möglich, dass er dieses „Vergessen-Wollen“ mit Substanzen wie Alkohol oder Haschisch zu unterstützen versucht. Natürlich beruht auch diese Anschlusshandlung auf einer bestimmten Erwartungshaltung, die ihrerseits durch Erfahrungen oder Vorstellungen von Erfahrungen (z.B. durch die Erzählung oder das Vormachen anderer) genährt wird.

 

Konzepte der Suchtprävention

 

Damit verlassen wir unser Beispiel und versuchen am Beispiel der illegalen Drogen zu erörtern, mit welchen Konzepten die Suchtprävention ihr hautptsächliches Ziel - nämlich die Bewusstseinsstrukturen von Menschen so zu beinflussen, dass diese Probleme ohne Suchtmittel lösen können - zu erreichen versucht und wie diese Konzepte aus systemtheoretischer Sicht aussehen.

Als Ende der 60er-Jahre der zunehmende Konsum von illegalen Drogen in den westlichen Staaten als Problem empfunden wurde, versuchte man, die Jugendlichen mit präventiven Botschaften vom Drogenkonsum abzuhalten. Die Informationen lauteten: „Drogen sind schädlich“, „Drogen töten dich“ etc.. Diese abschreckenden Informationen sollten sich im Bewusstsein der Jugendlichen festsetzen und ihr Handeln so beeinflussen, dass sie keine Drogen mehr nähmen. Systemtheoretisch übersetzt heisst dass: Das psychische System (Bewusstsein) der Jugendlichen sollte auf eine Information aus seiner Umwelt (z.B. auf die Frage: „Willst du einen Joint?“) die Wahl einer günstigen Anschlusskommunikation bewirken wie: „Nein danke, ich kiffe nicht“.

Eine solche Beeinflussung ist im übrigen das Ziel jeder Erziehung: Erziehung versucht immer, die Zufälligkeit beim Strukturaufbau im menschlichen Bewusstsein einzuschränken und damit den Aufbau von bestimmten, aus Sicht der Erziehenden günstigen Strukturen zu bewirken. Wird dieser Strukturaufbau nicht willentlich von aussen beeinflusst, sondern erfolgt als er Resultat von Lebenserfahrungen, spricht die Systemtheorie von Sozialisation[xv].

 

Weg von der Abschreckungsprävention

 

Wie die Präventionsforschung nachweisen kann[xvi], bewährt sich die Abschreckungsprävention nicht. Aus der Sicht der Systemtheorie ist dieser Befund nicht überraschend, denn eine Information wie „Drogen sind schädlich“ muss viele Hindernisse überwinden, bis sie sich im Bewusstsein eines Menschen als Struktur festsetzen kann. Zum einen sind schon Strukturen vorhanden, die eine Internalisierung der neuen Struktur erschweren, zum andern wird die Information über die Schädlichkeit von Drogen von andern Informationen konkurriert. Einige Beispiele:

  • Befindet sich der Jugendliche z.B. in einer Lebensphase, in welcher er Autoritäten wie LehrerInnen, Eltern und Polizei gegenüber eher skeptisch eingestellt ist, vermindert das die Chance, dass eine solche, durch diese Menschen geäusserte Information als Struktur ins Bewusstsein integriert wird.

  • Ein ähnlicher Hinderungsgrund kann der generelle Wunsch vieler Jugendlicher sein, den selbsterwählten Bezugspersonen (z.B. im Rahmen einer peer group) zu gefallen. Ist dies der Fall, dann steigt die Chance, dass sich im konkreten Fall der Gruppendruck (also die Information: „Wenn du nicht mitrauchst, bist du out.“) gegen die von den „Autoritäten“ angestrebte Strukturen „Angst“ oder „Vernunft“ durchsetzt, falls der Jugendliche diese Strukturen in Bezug auf Drogen überhaupt übernommen hat.

  • Im unserem Fall spielt auch die widersprüchliche Behandlung von legalen und illegalen Suchtmitteln eine Rolle: Für einen Jugendlichen ist es kaum nachzuvollziehen, warum er verzeigt wird, wenn ihn die Polizei beim Rauchen eines Joints erwischt, während sein Vater ungeschoren davon kommt, wenn er im Alkoholrausch seine Frau verprügelt. Wird dann noch auf Glanzpapier gerade für den Whisky geworben, den der Vater bevorzugt, ist es leicht zu verstehen, wenn der Jugendliche die Information „Drogen sind schädlich“ hinterfragt und nicht bereit ist, sie als verhaltensbestimmende Struktur zu übernehmen.

 

Black box

 

Anhand dieser wenigen Beispiele lässt sich zeigen, wie komplex das menschliche Bewusstsein und seine Handlungsweise ist und wie unendlich viel komplexer die Beziehungen des psychischen Systems des Menschen zu seiner Umwelt und den darin enthaltenen Systemen sind. Linearität nach dem Motto „Ich sage dies, dann geschieht das.“ ist dieser Komplexität in keiner Weise gewachsen, das hat sich schon bei den obigen Ausführungen zu Beratung und Therapie gezeigt. Die frühe Theorie geschlossener Systeme, auf der die moderne Systemtheorie zu einem Teil aufbaut[xvii], spricht bei sozialen und psychischen Systemen von einer „black box“: Wenn man einen Input in das System hineingibt, kann nie mit Sicherheit voraussagen, was als output resultiert. Eltern mit pubertierenden Kindern können diese Erkenntnis zweifellos nachvollziehen: Die Kinder, die sich noch vor wenigen Jahren so gut kannten, verändern ihre Bewusstseinsstrukturen - unterstützt durch ihre soziale, seelische und körperliche Entwicklung - in einem Mass, das die Eltern nicht mehr nachvollziehen können. Systemtheoretisch gesprochen: Es ist für die Eltern viel weniger konkret voraussehbar als früher, welche Anschlusskommunikation ihr Kind auf einen bestimmten input auswählen (selegieren) wird.

 

Just say no?

 

Für den Präventionsfachmenschen stellt sich nun die Frage, wie wirkungsvolle Suchtprävention aussehen soll. Wie wir oben gesehen haben, geht es bei aller Erziehung darum, dem Kind Richtlinien zu vermitteln, welche die Zufälligkeit seines Anschlussverhaltens beschränken. Bezüglich der illegalen Drogen soll der Jugendliche auf die Frage „Willst du einen Joint?“ gewisse durchaus mögliche Arten des Anschlussverhaltens wie „ja, gerne“ mit höchstmöglicher Sicherheit verwerfen oder zumindest möglichst selten wählen, wie dies der kontrollierte Umgang mit Suchtmitteln vorsieht. Das ist das erklärte Ziel der jeder Drogenprävention.

Über die Wege, die zu diesem Ziel führen, scheiden sich die Geister bekanntlich: Die ehemalige First Lady der USA, Nancy Reagan, versuchte es plakativ mit dem Slogan „Just say no!“, ein Schlagwort, welches in der Form „Sag nein zu Drogen!“ in der Schweiz auch heute noch präsent ist. Wir haben oben gesehen, dass eine so simple Information, sich im Bewusstsein eines Menschen kaum festsetzen wird. Dementsprechend wird sie auch sein Verhalten kaum wunschgemäss steuern. Dies schien den Präventionsfachleuten des Bundesamtes für Gesundheit bekannt zu sein, als sie 1993 die Kampagne „Wer gelernt hat, nein zu sagen, kann es auch besser zu Drogen sagen“ lancierten. Diese Information richtet sich bereits mehr an die Erziehenden, ist also quasi eine Erziehung der Erziehenden: sie sollen den Kindern beibringen, wie sie nein sagen können. Nein sagen - dies hat die moderne Pädagogik erkannt - ist eine Eigenschaft, die bei der Gestaltung eines eigenständigen Lebens wichtig ist; sie ist eine Lebenskompetenz.

 

Die Förderung von Lebenskompetenzen

 

Es gibt auch noch andere Lebenskompetenzen, wie z.B. die Fähigkeit, sich durchzusetzen, zu streiten, kreativ zu handeln etc.. Die Prävention hat erkannt, dass die Förderung solcher Lebenskompetenzen bei der Vorbeugung gegen Suchtmittelmissbrauch eine zentrale Rolle einnimmt. Seit einigen Jahren wird - durchaus mit Erfolg[xviii] - versucht, mit entsprechenden Präventionsprogrammen die Hauptzielgruppe von Suchtprävention zu erreichen: die Jugendlichen.

In letzter Zeit hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Wirkungsgrad von Lebenskompetenzförderungsprogrammen wohl noch gesteigert werden kann, wenn die Programme früher einsetzen. Das Projekt „Spielzeugfreier Kindergarten“ über welches das SuchtMagazin 1/97 ausführlich informierte, ist so ein Versuch, die Kinder zu einem Zeitpunkt mit suchtpräventiven Inhalten zu erreichen, wo sie weder eine Ahnung davon haben, was Sucht ist, noch in der Gefahr stehen, Suchtmittel zu konsumieren (was natürlich Ansätze zu süchtigem Verhalten - z.B. beim Fernsehen - nicht ausschliesst).

Aus der Sicht der Systemtheorie ist es durchaus verständlich, dass Suchtprävention in der Form der Förderung von Lebenskompetenzen einen höheren Wirkungsgrad hat, wenn sie früher einsetzt: Je früher - im suchtpräventiven Sinn - positive Erfahrungen im Bewusstsein der Kinder Selektionsstrukturen hinterlassen, desto mehr anschliessende Strukturen werden durch sie beeinflusst. Es ist klar, dass auch - durch die Gesellschaft oder andere soziale Systeme - positiv bewertete Bewusstseinsstrukturen durch andere (negativ bewertete) Erfahrungen überlagert oder ersetzt werden können; aber immerhin sind sie einmal im Bewusstsein vorhanden und haben so die Möglichkeit, die Auswahl von nachfolgenden Information, Gedanken, Handlungen und Strukturen des Menschen zu beeinflussen.

 

„Mami, mir isch’s langwylig!“

 

An einem weiteren Beispiel lässt sich aufzeigen, dass Lebenskompetenzen nichts anderes sind als Selektionsstrukturen, welche die Auswahl der Anschlussmöglichkeiten auf bestimmte Umweltinformationen kanalisieren: Interpretiert ein Kind ein Bündel von Informationen aus seiner Umwelt als „Langeweile“, eröffnet ihm die Lebenskompetenz „Mit-Langeweile-umgehen-Können“ bestimmte Möglichkeiten für Anschlussgedanken und -handlungen. Die können lauten: „Ich habe schon lange nicht mehr gezeichnet.“ oder - Traum aller Eltern -: „Wenn ich schon keine Lust zum Spielen habe, räume ich mein Zimmer auf, dann habe ich später Ruhe.“ oder einfach:  „Die Langeweile geht schon irgendwie vorbei“. Diese absolut willkürlich ausgewählten Beispiele geben uns die Möglichkeit zu versuchen, den Begriff „Lebenskompetenz“ systemtheoretisch zu definieren: z.B. als durch Sozialisation und/oder Erziehung entstandene Struktur des psychischen Systems (also: des Bewusstseins) eines Menschen - eine Struktur, die auf bestimmte Informationen aus der Umwelt bestimmte Anschlussgedanken und/oder -handlungen anbietet und andere ausschliesst.

Bei einer solchen Definition ist zweierlei zu beachten: Einerseits ist aufgrund der ungeheuren Zahl von Anschlussmöglichkeiten, die immer noch bestehen, nie umfassend zu definieren, welche dieser Möglichkeiten denn genau in der Kompetenz eingeschlossen sind und welche nicht; andererseits ist auch die Bezeichnung einzelner „geeigneter“ Anschlussmöglichkeiten immer eine Frage der Wertung, einer Wertung, die in diesem Fall durch Präventionsfachleute vorgenommen wird und die sich auch verändern kann.

Trotzdem: Wenn die Information „Langeweile“ immer und immer wieder mit der Anschlusshandlung „Fernseher einschalten“ beantwortet und eine solche Anschlusshandlung von der Umwelt des Kindes (z.B. dem System Familie) nicht verhindert wird, kann kaum noch von einer Lebenskompetenz „Mit-Langeweile-umgehen-Können“ die Rede sein.

 

Strukturelle Prävention

 

Führt man den Gedanken „je früher desto besser“ weiter, so stösst man schnell auf eine Form von Suchtprophylaxe, die schon in den 70er-Jahren[xix] erkannt, aber in der Regel mit einem oder zwei Sätzen abgehandelt wurde: die strukturelle Prävention. Wenn wir heute den Kindern im Kindergarten im Rahmen eines Projektes ermöglichen, durch das Spielen ohne Spielsachen bestimmte Lebenskompetenzen zu erwerben oder vorhandene zu fördern, ist es naheliegend, dass eine solche Förderung auch im Alltag erfolgen sollte. Diesbezügliche Vorschläge wie „generelle Verkehrsberuhigung“, „Hinterfragen der Konsummuster der Erwachsenen“, „Werbebeschränkungen“ und was der Utopien noch mehr sind, lösen in der Umwelt des sozialen Systems „Suchtpräventionslehre“ (und vielleicht auch intern) so heftige Reaktionen aus, dass ihre Realisierung nicht möglich erscheint.

 

Präventionsterminologie

 

Wenden wir uns zum Abschluss des Präventionskapitels noch der gängigen Terminologie in diesem Bereich zu: Seit Ende der 70er-Jahre wird die Suchtprävention in der Regel in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention aufgeteilt. Die Primärprävention soll das Gefährdungspotential von Jugendlichen ggü. Suchtmitteln verringern; die Sekundärprävention hat zum Ziel, gefährdete Jugendliche vom Konsum dieser Mittel abzuhalten, und die Tertiärprävention schlussendlich will bereits konsumierende Menschen vor der (zu häufigen) Wiederholung bewahren oder zumindest bewirken, dass gewissen Risikominderungen (wie den Gebrauch steriler Spritzen) vorgenommen werden.

Tertiärprävention

 

Aus der Sicht der Systemtheorie erscheint zumindest der Begriff der Tertiärprävention unglücklich, denn er ist kaum von den Begriffen Beratung und Therapie zu trennen. Jede Beratung und jede Therapie haben ja schlussendlich präventiven Charakter, denn sie versuchen mittels Strukturveränderungen in sozialen wie in psychischen Systemen zu bewirken, dass andere Anschlusshandlungen oder -kommunikationen gewählt werden. Im Falle der Tertiärprävention wird genau das gemacht. Das ist aber nicht der einzige Punkt: Da das unerwünschte Ereignis „Drogenkonsum“ bereits erfolgt ist, bleibt der Präventionsaspekt auf die Wiederholung beschränkt und hebt sich somit nicht mehr von Beratung und Therapie ab, denn auch diese versuchen, die Wiederholung von unerwünschten Denk- und Verhaltensweisen zu verhindern.

 

Sekundärprävention

 

Bei der Sekundärprävention präsentiert sich die Sachlage nicht mehr so eindeutig: Der Terminus „gefährdete Jugendliche“ sagt aus, dass eine Beobachterin aus der Umwelt des Jugendlichen Symptome zu erkennen glaubt, die darauf schliessen lassen, dass der Jugendliche über gewisse Bewusstseinstrukturen verfüge, die den Konsum von Suchtmitteln wahrscheinlich oder mindestens möglich machen. Das unerwünschte Ereignis „Drogenkonsum“ ist also noch nicht eingetreten, es ist aber wahrscheinlich. In diesem Sinn besteht durchaus ein präventiver Aspekt, der die Sekundärprävention von Beratung und Therapie abhebt, denn diese werden in der Regel erst in Anspruch genommen, nachdem das unerwünschte Verhalten aufgetreten ist. Andererseits sind die Mittel dieses Präventionsbereiches die gleichen wie in Beratung und Therapie: Mit kommunikativen Interventionen in das psychische System des Jugendlichen und/oder in die sozialen Systeme, an denen er hauptsächlich teilnimmt, sollen Strukturen so verändert werden, dass andere Anschlussmöglichkeiten in den Vordergrund treten. Die Früherfassung an der Schule, die in Luzern erfolgreich eingeführt worden ist und vielerorts Nachahmung findet[xx], setzt in erster Linie bei den sozialen Systemen an. Da - wie wir oben gesehen haben - eine strukturelle Veränderung dieser Systeme nur möglich ist, wenn die Mitglieder ihre Strukturen vorgängig ändern, hat die Intervention natürlich auch auf den Jugendlichen einen Einfluss.

 

Primärprävention

 

Kommen wir zu Primärprävention: Hier ist eine deutliche Abgrenzung zu den Begriffen der Beratung und der Therapie festzustellen, da weder ein aktuell unerwünschtes Verhalten (in diesem Fall der Suchtmittelkonsum) noch die explizite Neigung eines Menschen zu einem solchen Handeln festzustellen sind. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass sich Primärprävention - im Gegensatz zu Sekundärprävention im Früherfassungssinn - nicht mehr an konkrete, einzelne Menschen richtet, sondern an Kinder und Jugendliche allgemein, resp. an Menschentypen, d.h. an sogenannte Zielgruppen. Diese Abspaltung von Zielgruppen veranlasst zur Überlegung, ob nicht noch eine weitere Unterteilung der Primärprävention Sinn machen würde.

Mit „Zielgruppe“ ist in der Regel ein Gruppe von Menschen gemeint, die überdurchschnittlich in Gefahr stehen, irgendwann Strukturen zu entwickeln, die die Auswahl von unerwünschten Anschlusshandlungen - in diesem Fall die Handlung, Suchtmittel zu konsumieren - wahrscheinlicher machen. Die Definition einer solchen Zielgruppe kann aufgrund empirischer Erfahrungen erfolgen. Wenn z.B. die AbsolventInnen eines bestimmten Schultypus’ gehäuft drogensüchtig werden, kann Primärprävention gezielt in diesem Bereich ansetzen.

Eine andere, weniger pauschale Zieldefinition wäre möglich, indem - auch auf der Basis empirischer Erhebungen - gewisse Verhaltensweisen bezeichnet werden, welche auf Bewusstseinsstrukturen schliessen lassen, welche die Entwicklung von Strukturen fördern, die die Wahl von unerwünschten Verhaltensweisen (wie Suchtmittelkonsum) wahrscheinlicher machen.

 

Für eine Aufteilung des Begriffes „Primärprävention“

 

Natürlich: Der Strukturaufbau von der Geburt bis zur Entwicklung solcher unerwünschter Strukturen ist fliessend - haben nicht alle Menschen Strukturen in sich, die süchtiges Verhalten wahrscheinlicher machen? - und eine Zäsur wird immer willkürlich sein. Trotzdem scheint eine solche Grenze in der Praxis dienlich, würde sie doch erlauben, höchst unterschiedliche Konzepte der Primärprävention in zwei Gruppen zu fassen.

Die eine Gruppe würde die Projekte umfassen, die sich an die oben beschriebenen Zielgruppen richten oder - genereller gefasst - an solche Projekte, die von der gehäuften Existenz von Bewusstseinsstrukturen ausgehen, die die Entwicklung von Strukturen fördern, welche den Suchtmittelkonsum wahrscheinlicher machen. Konkret bieten diese Projekte Alternativen zu Verhaltensweisen an, die späteren Suchtmittelmissbrauch begünstigen.

Die zweite Gruppe - bis heute viel weniger angewendet als die erste - umfasst Bestrebungen, die möglichst früh die Bildung eines grossen Arsenals von Strukturen fördern, welche den späteren Aufbau von unerwünschten Strukturen erschweren. In diesem Bereich fällt die strukturelle Prävention (wie z.B. die Förderung der Elternbildung) und alle Lebenskompetenzkonzepte.

Abschliessende Bemerkungen

 

Wir haben versucht, einige der wichtigsten - und bei weitem nicht alle - Grundgedanken der Systemtheorie an drei Bereichen der Suchtarbeit darzustellen. Auch die Beschreibung anderer Teile - z.B. des politischen oder ökonomischen Teils - dieses komplexen Gesellschaftssystemes „Suchtarbeit“ wäre durchaus möglich, was zeigt, wie polyvalent diese Theorie ist. Abschliessend sollen einige dieser Grundgedanken zusammengefasst wiedergegeben werden:

  • Die Systemtheorie ist eine rein beschreibende, nicht eine erklärende oder gar wertende Theorie.

  • Indem sie den Menschen (resp. sein Bewusstsein) von seiner sozialen Umwelt abtrennt, wertet die Systemtheorie den Menschen nicht ab, sondern macht ihn klarer fass- und damit beschreibbar.

  • Soziale wie psychische Systeme sind autopoietisch, das heisst: ihre Elemente erneuern sich fortwährend, indem sie in einer unablässigen Reihe aneinander anschliessen.

  • Als Elemente sozialer Systeme nennt die Systemtheorie die Kommunikationen und Handlungen; als Elemente psychischer Systeme bezeichnet sie die Gedanken.

  • Beide Systeme - soziale und psychische - haben eine Umwelt, in der sie sich (neben andern Systemen) gegenseitig wiederfinden.

  • Beide Systeme sind einerseits autonom, anderseits aber auch untrennbar miteinander verbunden: kein soziales System existiert ohne psychische Systeme und keine psychisches ohne soziale.

  • Soziale und psychische Systeme operieren aufgrund von Strukturen, welche die Wahl ihrer Elemente (also Kommunikationen oder Gedanken) steuern.

  • Die Strukturen des psychischen Systems werden durch Sozialisation und Erziehung beeinflusst (gelernt) und bauen aufeinander auf. Anders ausgedrückt: Die Bildung neuer Strukturen erfolgt aufgrund von Informationen aus der Umwelt und gespeicherter Informationen, wobei die Auswahl dieser Informationen wiederum durch die Strukturen beeinflusst wird.

  • Bestehende Strukturen sind in beiden Systemen sind nur mit relativ grossem Aufwand zu verändern.


[i] vgl. z.B. Richelshagen (1996); dieses Buch wurde im SuchtMagazin 1/97 vorgestellt.

[ii] vgl. dazu die Einleitung von Steiner et. al. (1993, 309ff.)

[iii] vgl. Luhmann (1994, 551ff.)

[iv] zur Geschichte der Systemtheorie vgl. Kneer/Nassehi (1994, 17ff.)

[v] Von der Bedeutung der Strukturen wird weiter unten noch ausführlich die Rede sein.

[vi] Das gilt in gleichem Mass für soziale Systeme.

[vii] Das gleiche gilt natürlich auch für die Sinnesorgane: Ein blinder Mensch wird nicht reagieren, wenn ich ihm aus einer gewissen Distanz zuwinke - die physischen Voraussetzungen sind dafür nicht gegeben.

[viii] vgl. dazu die sehr anschaulichen Schriften von Watzlawick, so 1981.

[ix] Wie Luhmann (1994, S. 385) aufzeigt, basiert auch die Verknüpfung (Interdependenz) dieser Strukturen auf Selektionen, da nicht alle mit allen verbunden sein können.

[x] Die Aufgabe von Strukuren ist ja, die Selektion von Anschlussmöglichkeiten zu steuern, indem sie gewisse Möglichkeiten ausschliessen und andere damit wahrscheinlicher machen. Diese Selektionsleistung muss relativ stabil sein, denn sonst müsste sie andauernd neu erbracht werden. (vgl. Luhmann, 1994, 385f.)

[xi] Das Fehlen einer präzisen Definition darüber, wo Beratung aufhört und Therapie anfängt, ist für viele SozialarbeiterInnen ein praktisches Problem, mit dem sie laufend konfrontiert werden.

[xii] Die Lage der Therapiestationen ist nicht der eizige Kritikpunkt an den herkömmlichen Drogentherapien. Vgl. hierzu u.a. Kowalsky  (1991, 113ff.)

[xiii] zu dieser Thematik vgl. u.a. Willke (199?, 333ff.)

[xiv] Steiner et. al. (1993, 314f.) meinen, dass die Rezeption der Theorie von Maturana/Varela bei bestimmten Fragen der Familientherapie nicht genüge; Luhmann habe z.B. auf die zentrale Frage, auf welcher Ebene eine therapeutische Intervention einsetzen soll, weiter entwickelte Antworten.

[xv] vgl. Luhmann (1994, 280ff.)

[xvi] vgl. u.a. Künzel-Böhmer (1994, 15ff.)

[xvii] Kneer, Nassehi, (1994, 19ff.)

[xviii] vgl. Künzel-Böhmer (1994, 15ff.)

[xix] Zur Geschichte der Suchtprävention vgl. u. a. Hafen (1995, 2ff.)

[xx] vgl. dazu Gschwind (1994, 12ff.)