Fachzeitschrift Soziale Arbeit 21/1998: 3-9 |
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Die gesellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit
Die Sozialarbeit hat keine einheitliche Vorstellung von ihrer Funktion in der Gesellschaft: Ist es ihre Aufgabe, Gutes für die hilfsbedürftigen Menschen zu tun und die Welt zu verbessern? Oder ist sie dazu da, um der Gesellschaft die Probleme vom Hals zu schaffen, die diese produziert? Ein Blick aus systemtheoretischer Perspektive kann zur Klärung dieser Fragen beitragen; vielleicht führt er sogar zu einer neuen Selbsteinschätzung der Sozialarbeit.
Martin Hafen
Soziale Hilfe in der Frühzeit…
Um
besser verstehen zu können, warum die Sozialarbeit durch die Gesellschaft
und sich selbst so zweideutig eingestuft wird, lohnt sich eine
Auseinandersetzung mit der Geschichte der sozialen Hilfe. Im
Laufe der Menschheitsgeschichte hat sich die soziale Hilfe laufend den übrigen
gesellschaftlichen Veränderungen angepasst.[1]
In frühen Zeiten waren die sozialen Einheiten noch weitgehend
voneinander getrennt. Eine Gemeinschaft hatte kaum Kontakt zu ihrer
Umwelt, und innerhalb dieses sozialen Systems waren die Handlungen und
Beziehungen der Menschen weitgehend durch Normen vorbestimmt. Das galt
auch für die soziale Hilfe. Wer in Fällen zu helfen hatte, die nicht
nach dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe gelöst werden konnten, war
genauso festgelegt wie die Verteilung der Arbeit. Dazu kam, dass die Zahl
der Fälle, in denen Hilfe nötig wurde, durch die relative
Geschlossenheit der Gemeinschaften im Vergleich zu heute gering war. …
und im Mittelalter
Im
Laufe der Zeit lösten sich die starren Grenzen der sozialen Systeme
zunehmend auf. Städte entstanden, und damit stieg auch die
gesellschaftliche Komplexität – oder anders ausgedrückt: die Zahl der
möglichen Beziehungen und Kommunikationen zwischen den Menschen. Die
gesellschaftliche Ordnung, die sich in der Zeit zwischen den Hochkulturen
(ca. 3'000 bis 2'000 vor Christus) bis zum ausgehenden Mittelalter (15.
Jahrhundert) etablierte, wird in der Regel als soziale Schichtung
bezeichnet. Im Mittelalter bestanden diese Schichten – vereinfacht
gesagt – auf der weltlichen Seite aus Adel, Bürgertum und den Bauern
und Arbeitern. Der einzelne Mensch war in seinem Bewegungsspielraum jetzt
nicht mehr auf seinen Geburtsort beschränkt, doch ein Wechsel zwischen
den einzelnen Schichten war noch kaum möglich. Für
die soziale Hilfe hatten diese Veränderungen tiefgreifende Folgen. Natürlich
wurde noch immer im engen sozialen Umfeld Hilfe geleistet. Dieses Prinzip
des gegenseitigen Gebens und Nehmens – das Prinzip der Reziprozität –
ist eine Form menschlichen Verhaltens, die sich in allen
Gesellschaftsformen erhalten hat, bis heute. In allen andern Situationen,
in denen Hilfe benötigt wurde, war es jedoch nicht mehr möglich, zum
Voraus festzulegen, wer diese Hilfe zu leisten hatte; dafür war die
Gesellschaft zu komplex. Daher entwickelte sich eine neue Hilfeform: die
der Wohltätigkeit. Die Hilfe für die “Armen” wurde zur Aufgabe der
oberen Schichten – zuerst als Tugend und dann immer mehr als
Standespflicht. Hilfe war also eine der Gegenleistungen, die der Adel und
das wohlhabende Bürgertum für die bevorzugte Stellung zu leisten hatten,
die ihnen (nach der damaligen Sicht) Gott zugewiesen hatte. Eine
neue Gesellschaftsordnung…
Die
Jahrtausendmitte brachte tiefgreifende gesellschaftliche Änderungen mit
sich: Die Reformation stellte die bis dahin geltenden religiösen
Prinzipien in Frage, und der freie Markt gewann als Medium zum Güteraustausch
immer mehr an Bedeutung. Die Folge war das, was Luhmann[2]
als Ausdifferenzierung von Funktionssystemen bezeichnet: Nicht mehr der
Adel und der Klerus bestimmten – sich auf Gott oder die Natur berufend
–, wie gesellschaftliche Probleme zu lösen sind, sondern es bildeten
sich soziale Systeme, die diese Aufgaben übernahmen – und bis heute übernehmen:
Das Wirtschaftssystem sorgt für den Austausch von Gütern; das
Rechtssystem versucht, die gesellschaftlichen Normen durchzusetzen, und
das Wissenschaftssystem hat die Aufgabe, Wahres von Unwahrem zu trennen. Alle
diese Aufgaben lassen sich auf einen Nenner bringen: die Reduktion der
laufend zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität. Diese Systeme bilden
sich heraus, um ihre Probleme möglichst effizient zu lösen. Oder anders
herum: sie müssen sich nur noch sehr beschränkt darum kümmern, wie die
andern Systeme ihre Aufgaben bewältigen. Das Rechtssystem überwacht
zwar, dass die entsprechenden Gesetze im Wirtschaftssystem eingehalten
werden, aber mit dem eigentlichen Austausch von Gütern hat es nichts zu
tun. …
und die Folgen für die soziale Hilfe
Mit
der Auflösung der herkömmlichen “gottgewollten” Schichten, die in
Europa mit der französischen Revolution ihren Höhepunkt fand, wurde auch
die soziale Hilfe neu geordnet. Hilfe, die nicht im sozialen Umfeld (z.B.
in der Familie) geleistet werden konnte, wurde vermehrt durch den Staat übernommen
und in der Form von Steuern durch die Gemeinschaft finanziert. Ab dem 19.
Jahrhundert wurden Organisationen gegründet, die sich das Helfen zur
Aufgabe machten. Mit der Zeit entstanden immer mehr solche
Hilfeorganisationen. Sie machten die Hilfe für die Bedürftigen
erwartbar, und diese Erwartbarkeit wurde noch gestützt durch die
zunehmende Zahl an Gesetzen, die vorschrieben, in welchen Fällen und in
welchem Mass Hilfe geleistet werden sollte. Im
Rückblick kann man sagen, dass die soziale Hilfe spätestens seit Beginn
des 20. Jahrhunderts ein eigenes Funktionssystem bildet. In diesem System
wird – im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben – entschieden, ob und wie
geholfen werden soll. So wie das Wissenschaftssystem zwischen wahr und
unwahr zu unterscheiden versucht, so unterscheidet das Sozialhilfesystem
zwischen Hilfe und Nichthilfe. Die
soziale Arbeit differenziert sich weiter aus…
Neben
dieser gesamtgesellschaftlichen Ausdifferenzierung, die einzelne soziale
Aufgaben speziellen Systemen zuweist, gibt es immer auch eine
systeminterne Ausdifferenzierung. Dies geschieht, wie oben angetönt,
unter anderem durch die Herausbildung von Organisationen.
Hilfeorganisation sind wie alle Organisationen soziale Systeme für sich.
Das heisst: sie reduzieren die gesellschaftliche Komplexität nach ihren
eigenen Prinzipien. Sie bestimmen zum Beispiel durch Programme, für
welche Art von Hilfe sie zuständig sind und wie sie diese Hilfe zu
leisten gedenken. Schauen
wir die professionelle Hilfe in der Schweiz an, so stellen wir fest, dass
in diesem Jahrhundert nicht nur verschiedene Themenbereiche wie
Altershilfe, Jugendhilfe, Suchthilfe etc. ausdifferenziert wurden, sondern
dass diese Aufgabenteilung innerhalb dieser Bereiche weitergeführt wurde.
Besonders deutlich ist dies am Suchtbereich zu sehen: Da gibt es nicht nur
Organisationen in allen Bereichen zwischen Prävention und
Therapie-Nachsorge; es wird auch noch unterschieden zwischen legalen und
illegalen Suchtmitteln und zwischen Alkohol und Tabak. An
diesem Beispiel ist eines deutlich zu sehen: Jede Reduktion von Komplexität,
jede Spezialisierung schafft neue Möglichkeiten, neue Bedürfnisse und
damit neue Komplexität. Das ist der Grund dafür, dass die Gesellschaft
immer komplexer wird, obwohl die Menschen nichts anderes tun, als diese
Komplexität zu reduzieren. …
und sie professionalisiert sich
In
allen Funktionssystemen ist es so, dass nicht nur Organisationen
herausgebildet werden, um die anstehenden Aufgaben zu bewältigen; es wird
auch versucht, die Menschen, die in einem Bereich tätig sind, möglichst
gut auf diese Tätigkeiten vorzubereiten. Aus der Sicht der Systemtheorie
heisst das: Es wird versucht, ihnen Bewusstseinsstrukturen zu vermitteln,
die sie in bestimmten Situationen so handeln lassen soll, wie es aus der
Sicht der Ausbildenden erwartet wird. Mit dieser Ausdifferenzierung von
Ausbildungsgängen tut sich eine neue Unterscheidung auf: diejenige von
professioneller und nicht-professioneller Hilfe, wie zum Beispiel solcher,
die ehrenamtlich geleistet wird. Damit
ergibt sich in der modernen Gesellschaft eine ganze Palette von
unterschiedlich konzipierten Hilfeformen: Auf der einen Seite steht die
professionelle, bezahlte Hilfe, die sich bemüht, die Helfenden möglichst
umfassend auf ihre Aufgabe vorzubereiten; auf der andern Seite gibt es
unbezahlte Hilfe, was impliziert, dass die Helfenden für ihre Tätigkeit
andere Gegenleistungen bekommen als einen (monetären) Lohn. Schlussendlich
sind da noch die Familie und die sozialen Netzwerke. Sie befinden sich
ausserhalb des eigentlichen Sozialhilfesystems und haben eine
Pufferfunktion, wenn im System – zum Beispiel auf Grund von fehlenden
Finanzen – vermehrt auf “Nichthilfe” entschieden wird. Dabei darf
nicht vergessen werden, dass der mit Abstand grösste Teil der sozialen
Hilfe immer noch in der Familie und da von den Frauen geleistet wird.[3] Hilft
die Sozialarbeit dem Einzelnen…
Diese
Entwicklung von traditionalen Hilfeformen über die Wohltätigkeit bis hin
zur professioneller Sozialarbeit verlief natürlich nicht in klar
abgetrennten Stufen. Die Vorstellungen von früher können nicht einfach
abgelegt werden; sie übertragen sich immer zu einem Teil in die folgende
Phase. So ist es auch heute für viele SozialarbeiterInnen selbstverständlich,
dass sie zu einer “besseren Welt beitragen und ihren KlientInnen
“Gutes tun”. Für diese “Wohltätigkeit”, die bisweilen mit einer
persönlichen Aufopferung verbunden ist, die weit über die vertraglich
geregelte Arbeit hinausgeht, erwarten SozialarbeiterInnen nicht selten ein
gewisses Mass an Dankbarkeit – von ihren KlientInnen und von der
Gesellschaft . Aber
ist solcher Dank wirklich zu erwarten? Die Hilfeforschung[4]
hat gezeigt, dass die professionelle Hilfe von den Bedürftigen gar nicht
so positiv empfunden wird, wie dies von den HelferInnen erwartet (oder gewünscht?)
wird. Auf professionelle Hilfe angewiesen zu sein, bewirkt bei den bedürftigen
Menschen oft ein Gefühl der Hilflosigkeit, des Nicht-Genügens. Dazu
kommt, dass professionelle Hilfe – im Gegensatz zur freiwilligen –
jegliche Reziprozität ausschliesst: Die Bedürftigen können die
erhaltene Hilfe nicht mit eigener Hilfe vergelten. …oder
beseitigt sie der Gesellschaft die Probleme?
Diese
(Selbst-)Hilflosigkeit wird dadurch verstärkt, dass die Bedürftigen spüren,
wie die Gesellschaft mit ihren Problemen umgeht. Nach Baecker[5]
hat die moderne Gesellschaft westlicher Staaten soziale Probleme immer
nach der Unterscheidung Konformität und Devianz, also nach Norm und
Abweichung beurteilt. Die Sozialarbeit konnte und kann sich dieser
gesellschaftlichen Beurteilung nicht vollständig entziehen. Sie trägt
z.B. zur Verstärkung dieser Vorstellung bei, indem sie Bedürftigen nach
ihren “devianten” Verhaltensweisen gruppiert und möglichst gesondert
behandelt: in Altersheimen, Kliniken, Therapiestationen, Jugendtreffs etc.
Für die KlientInnen hat dies nicht selten zur Folge, dass sie durch die
sozialarbeiterische Betreuung stigmatisiert und damit noch weiter
ausgegrenzt werden. Das ist eine Vorstellung, die vielen
SozialarbeiterInnen nicht gefällt – vor allem wenn sie noch dem
Gedanken der Wohltätigkeit verbunden sind. Sozialarbeit
muss also nicht nur darum bemüht se,in, ein realistischeres Bild von dem
zu bekommen, was die KlientInnen von ihr erwarten. Sie sollte sich auch
der Funktion bewusst sein, die ihr durch die übrige Gesellschaft
zugeordnet wird: die Beseitigung der Probleme, welche diese Gesellschaft
produziert. Wenn sich die Mitglieder des Sozialhilfeystems – die
SozialarbeiterInnen – dieser beiden, teilweise widersprüchlichen
Erwartungshaltungen bewusst sind, werden sie sich auch keine allzu
romantischen Vorstellungen über die Möglichkeiten von sozialer Arbeit
mehr machen. Eine
neue Leitunterscheidung
Eine
derart nüchterne Selbsteinschätzung in auf keinen Fall mit Resignation
gleichzusetzen; die Sozialarbeit hat durchaus die Möglichkeit, die
Gesellschaft ebenfalls zu beeinflussen. Wie ich zu zeigen versuchte,
bildet die soziale Arbeit ein Teilsystem der Gesellschaft. Dieses
Sozialhilfesystem ist, obwohl abhängig von der Gesellschaft, ein
autonomes System, welches durchaus in der Lage ist, eigene Vorstellungen
von der geleisteten Arbeit zu entwickeln. Wenn es – basierend auf einer
möglichst realitätsgetreuen Selbsteinschätzung – Ideen entwickelt,
wie soziale Arbeit zu verstehen sein könnte, so ist es durchaus möglich,
dass auch die Gesellschaft mit der Zeit ein anderes Bild von sozialer
Arbeit bekommt. Ein
Schritt zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Einschätzung von
Sozialarbeit könnte sein, die alte Leitdifferenz von Konformität und
Devianz zu ersetzen. Diese Unterscheidung mutet ohnehin sonderbar an, wenn
man die Zielgruppen anschaut, mit denen sich die moderne Sozialarbeit
beschäftigt: Alte, “schwierige” Jugendliche, Suchtkranke jeder Art,
psychisch Kranke, Blinde, Behinderte, Arbeitslose etc. Alle diese Menschen
sollen von der Norm abweichen und sich demnach von übrigen Menschen, den
“Normalen” unterscheiden? Exklusion
statt Devianz
Baecker
schlägt vor, an Stelle der Unterscheidung von Norm und Abweichung
diejenige von Inklusion und Exklusion zu benutzen. Was meint er damit? Er
geht davon aus, dass ein Mensch, der professionelle Hilfe benötigt, in
erster Linie das Problem hat, dass er an einzelnen sozialen Systemen nicht
mehr oder nur noch beschränkt teilnehmen kann. Nehmen
wir zum Beispiel einen 40-jährigen Mann mit Alkoholproblemen: Er hat bei
seiner Arbeitsstelle nach verschiedenen Warnungen die Kündigung erhalten;
zudem plagen ihn Schulden, und seine Frau hat ihn vor die Türe gestellt
und zwar so lange, bis er sein Alkoholproblem in den Griff bekomme. Sie
droht ihm auch, sich scheiden zu lassen. Hier
droht Exklusion aus den verschiedensten Systemen, oder sie ist schon
erfolgt: Das Organisationssystem “Firma” hat den Mann ausgeschlossen;
beim System “Familie” droht die Frau mit einer Auflösung des Systems,
und am Wirtschaftssystem kann unser Klient nur noch beschränkt teilhaben,
weil er kein Geld hat. Die
Sozialarbeiterin hat nun die Aufgabe, diese Exklusionsprobleme mit dem
Mann zusammen anzugehen. Da eine wirkliche Lösung der Probleme –
sprich: eine vollständige Wiedereingliederung in die diversen Systeme –
in der Regel ein langwieriger Prozess ist, organisiert die
Sozialarbeiterin das, was Baecker “stellvertretende Inklusion” nennt:
Sie nimmt die Sanierung seiner Schulden an die Hand und vermittelt ihm Fürsorgegelder,
damit er sich Kleider und Essen kaufen kann. Sie organisiert einen Termin
mit der Ehefrau, um über die Zukunft der beiden zu beraten. Sie bringt
den Mann in einer Notunterkunft unter, damit er ein Dach über dem Kopf
hat. Mit der Zeit wird sie ihn an eine Alkoholberatungsstelle vermitteln
und gegebenenfalls einen Platz in einem Beschäftigungsprogramm
organisieren. All dies wie gesagt mit dem Ziel, die Inklusion in die
diversen Systeme wieder herzustellen und die Sozialarbeit überflüssig zu
machen. Eine
neue Definition von Sucht
Eine
solche Änderung der Leitunterscheidung ist mehr als eine blosse
Wortspielerei; sie entspricht einer neuen Betrachtungsweise von dem, was
wir als Realität bezeichnen. Ein solcher Perspektivenwechsel kann nicht
nur das Bild ändern, das die soziale Arbeit von sich selbst und ihren
KlientInnen hat; er kann auch dazu dienen, einzelne soziale Probleme neu
zu definieren. Am Beispiel das Suchtproblems sei dies illustriert: In
letzter Zeit werden immer wieder Stimmen laut, die von einer "Inflationierung"
des Suchtbegriffs sprechen. Dadurch dass jedes übermässige Verhalten als
Sucht bezeichnet werde, sei der Blick auf die wirklich gefährlichen Süchte
verstellt. Hier
bietet der Inklusions-/Exklusionsansatz eine neue Definitionsmöglichkeit:
Als "Sucht" könnte jedes wiederholte Verhalten bezeichnet
werden, welches für die Betroffenen zu Exklusionsproblemen jeglicher Art
führt und trotz dieser Probleme nicht unterlassen werden kann. Eine
Frage der Perspektive
Eine
solche Definition hat den Vorteil, dass sie nicht mehr vom Verhalten
ausgeht, respektive von dessen Beurteilung durch die Gesellschaft, sondern
von den Auswirkungen. Das entspricht ja eigentlich auch der gelebten
Realität: Es gibt Menschen, die jede Woche beachtliche Summen beim Glücksspiel
verlieren, sich das finanziell aber auch leisten können. Nach der
Devianz-Unterscheidung wird ein solches Verhalten schnell als
problematisch bezeichnet – so etwas "macht man nicht".
Andererseits brauchen solche GlückspielerInnen unter Umständen auch
nicht mehr Geld als Menschen, die sich einen Porsche leisten oder alle
zwei Wochen zum Heli-Skiing fahren. Den Unterschied macht die
gesellschaftliche Bewertung mit Unterscheidungen wie
"krankhaft/exzentrisch" aus, wie sie im beschriebenen Fall wohl
gewählt würde. Lassen
wir doch diese Art von Wertung! Sie trübt den Blick und lenkt von den
eigentlichen Problemen ab, die Sozialarbeit zu lösen hat. Was "süchtig"
ist, soll nicht mehr durch die Gesellschaft oder die Sozialarbeit bestimmt
werden, sondern durch die Betroffenen selbst und ihr unmittelbares
soziales Umfeld. Die Sozialarbeit trifft nur noch eine Unterscheidung:
hilft sie, oder hilft sie nicht? Die Antwort auf diese Frage ist
einerseits durch fachliche Überlegungen bestimmt – etwa die Frage, ob
Selbsthilfe nicht der bessere Weg wäre –; anderseits spielt es auch
eine Rolle, welche Ressourcen zur Verfügung stehen. Wertungen
auf einer andern Ebene
Ich
höre schon den empörten Widerspruch: “Wir brauchen doch Werte; wir müssen
doch unterscheiden zwischen erwünschtem und unerwünschtem Verhalten!”
Richtig. Wir müssen dabei nur die Ebenen auseinanderhalten. Wie
ich zu zeigen versuchte, funktioniert das Sozialhilfesystem nach eigenen
Prinzipien. Es hat Strukturen entwickelt: die in der Ausbildung
vermittelten Wissensinhalte, der Berufskodex, die Organisationsbildung,
die Programme dieser Organisationen. Diese Strukturen sind nichts anderes
als Hilfen bei der Entscheidung, ob und wie geholfen werden soll. Sie
reduzieren Komplexität, weil sie garantieren, dass bewährte
Entscheidungen auch in Zukunft abrufbar sind. Das
ist die eine Ebene. Die andere Ebene ist gleichbedeutend mit der Umwelt
des Sozialhilfesystems. Zu dieser Umwelt gehören nicht nur die andern
Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, sondern auch
die Menschen. Menschen sind nicht einfach Subjekte, die immer gleich sind.
Was ein Mensch “ist”, hängt zum einen davon ab, wie er sich selber
sieht, zum andern aber auch davon, wie die andern ihn sehen, was sie von
ihm erwarten[6].
Das wiederum ändert sich je nach Situation: Ein Mensch am Arbeitsplatz
ist ein anderer Mensch als zu Hause; es werden andere Erwartungen an ihn
gestellt. In
der täglichen Arbeit ist es so, dass die Entscheidungen immer durch beide
Ebenen beeinflusst werden: durch die Strukturen des Sozialhilfesystems und
durch die Bewusstseinsstrukturen der SozialarbeiterInnen. Daher ist es
naheliegend, dass letztere ihre persönlichen Wertungen immer in ihre
Arbeit einfliessen lassen – und das auch tun sollen. Wichtig ist nur,
dass man sich der persönlichen Wertung bewusst ist und sie von den
berufsspezifischen Vorgaben unterscheidet. Umgekehrt wird das ja auch
gemacht: Wie einfach ist es, sich auf die fehlende Ressourcen oder
Entscheidungskompetenzen zu berufen, wenn man geforderte Hilfe nicht gewähren
kann. Es hilft auszudrücken, dass die Ablehnung des Gesuchs eben
strukturell und nicht persönlich begründet ist. Die
Sozialarbeit wird nie ohne die persönliche Intuition und Wertung der
SozialarbeiterInnen auskommen. Das ist gut so, doch es darf nie dazu
kommen, dass die Werte der MitarbeiterInnen selber zum Programm werden.
Gerade in diesem Punkt unterscheidet sich professionelle von privater
Hilfe. Zusammenfassende
Bemerkungen
Sozialarbeit
hat sich erst in diesem Jahrhundert als professionelle Form von sozialer
Hilfe herausgebildet. Sie erfüllt eine Funktion für die moderne
Gesellschaft respektive für die andern Funktionssysteme: die Bewältigung
von Exklusionsproblemen. Oder provokanter ausgedrückt: Die Sozialarbeit
hilft in erster Linie der Gesellschaft und erst in zweiter Linie den
einzelnen Menschen. Damit ist sie ganz klar system-stabilisierend. Indem
sie soziale Probleme nicht mehr mit der Leitunderscheidung
Norm/Abweichung, sondern mit der von Inklusion/Exklusion beschreibt, könnte
die Sozialarbeit zu einer gesamtgesellschaftlichen Neubeurteilung sozialer
Probleme und der durch sie betroffenen Menschen beitragen. Ein
solches Selbstbild mag für die Sozialarbeit trotz allem ernüchternd
sein; es hat aber den Vorteil, dass es einheitlich ist und sich mehr an
den Erwartungen orientiert, welche die KlientInnen und die Gesellschaft an
das Sozialhilfesystem stellen. Das schützt vor falschen Erwartungen –
vor der Erwartung zum Beispiel, dass man für seine Tätigkeit Dank
erwarten könne. Dieser Dank ist unwahrscheinlich, denn die Gesellschaft möchte
sich der Probleme entledigen und nicht an sie erinnert werden, und die Bedürftigen
sehen sich weder gerne als Problemfälle, noch nehmen sie gerne Hilfe an,
denn das macht sie hilflos und mindert ihre Selbstachtung. Was eine solche Selbsteinschätzung der Sozialarbeit keineswegs ausschliesst, ist Menschlichkeit. Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft, auf die KlientInnen einzugehen und sie nicht nur als Fälle zu verwalten: das gehört genauso zu einer professionellen Berufsauffassung wie die realistische Einschätzung der eigenen Arbeit. Beides erhöht die Chance, die angestrebte Inklusion zu erreichen und damit die Funktion von Sozialarbeit für die Gesellschaft zu erfüllen.
[1] Vgl. dazu: Luhmann, Niklas, 1973: Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen. In: Otto, Hans-Uwe; Schneider, Siegfried, 1972: Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit. 1. Halbband. Neuwied, Berlin: 21-43 [2] Die Grundlagen der Luhmannschen Systemtheorie sind zu finden in: Luhmann, Niklas, 1984: Soziale Systeme – Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt. Einfacher zu lesen ist eine der zahlreichen Einführungen, so z.B.: Kneer, Georg; Nassehi, Armin, 1994: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme: eine Einführung. 2. unveränd. Aufl., München [3] Zur Forschung über unbezahlte Hilfe vgl.: Heinze, Rolf G.; Olk, Thomas; Hilbert, Josef, 1988: Umfang, Verteilung und Entwicklung unbezahlter sozialer Hilfeleistungen. In: dies., 1988: Der neue Sozialstaat. Analyse und Reformperspektive. Kapitel 12. Freiburg: 111-139 [4] Vgl. dazu: Bierhoff, Hans Werner, 1988: Helfen im Alltag und im Beruf. Ergebnisse der Altruismusforschung. In: Bierhoff, H.W.; Montada, L. (Hrsg.), 1988: Altruismus – Bedinungen der Hilfsbereitschaft. Hofgrefe: 30-52 [5] Baecker, Dirk, 1994: Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 23, Heft 2: 93-110 [6] Man beachte die Parallele zum sozialen System “Sozialhilfe”: Wie ich oben aufzuzeigen versuchte, setzt sich das, was das Sozialhilfesystem “ist”, ebenfalls aus seiner Selbsteinschätzung und der Einschätzung durch seine Umwelt zusammen. Beide Perspektiven beeinflussen sich auch hier gegenseitig. |