In: SuchtMagazin 2/2003: 3-

Kann Soziale Arbeit die Probleme der Schule lösen?

Für die Schule wird es immer schwieriger, die Vielfalt an Aufgaben befriedigend zu erfüllen, die ihr durch die Gesellschaft aufgetragen werden. Zu ihrer Entlastung greift sie vermehrt auf die Soziale Arbeit zurück. Die hohen Erwartungen, welche die Schule und ihr gesellschaftliches Umfeld gegenüber den Professionen der Sozialen Arbeit haben, könnten reduziert werden, wenn man sich bewusst macht, wie viele unterschiedlichen Faktoren die schwierige Lage der Schule (mit-)verursachen.

Martin Hafen

Martin Hafen , Sozialarbeiter und Soziologe, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Soziale Arbeit in Luzern, Fachbereich Prävention, an einer Präventionstheorie. Kontakt: Werftstr. 1, 6002 Luzern, Tel. 041 367 48 84 81, E-mail: mhafen@hsa.fhz.ch und h@fen.ch, Web: www.fen.ch.

Um die Frage zu klären, ob die Soziale Arbeit die Probleme der Schule lösen oder zumindest entschärfen kann, sollen nachfolgend drei Hauptaspekte behandelt werden: Zuerst wird es darum gehen, die Funktion der Schule in der modernen Gesellschaft zu beleuchten; nachher soll der Frage nachgegangen werden, wie es zu der aktuellen Überbelastung der Schule kommen konnte, und in den letzten Kapiteln werden die Möglichkeiten und Grenzen der Sozialen Arbeit bei der Unterstützung der Schule ausgelotet.[1]

Die Funktionen der Schule

Stellt man die Frage nach der Hauptaufgabe, welche die Schule für die Gesellschaft – zumindest in unserem Kulturkreis – erfüllt, so scheint die Antwort einfach: Sie soll unsere Kinder auf das Leben vorbereiten. Dabei wird schnell klar, dass dieses „Leben“ nichts Einheitliches beschreibt, sondern zwei bisweilen sehr unterschiedliche Aspekte: das Erwerbsleben und das sonstige, das so genannte „soziale“ Leben.

Der deutsche Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann, der sich – zusammen mit dem Pädagogik-Wissenschaftler Eberhard Schorr – intensiv mit dem Erziehungs- und Bildungssystem auseinandergesetzt hat[2], definiert die beiden wichtigsten Funktionen der Schule folgendermassen[3]:

„Die Schule ist in gewissem Sinn die Einheit zweier Funktionen, ... nämlich der Funktion der Erziehung und der Funktion der sozialen Selektion – sei es für weiterführende Erziehung, sei es für Berufe im Wirtschaftssystem.“

Für das Verständnis dieses Zitates ist von Bedeutung, dass Luhmann mit dem Erziehungsbegriff die Einheit von (Aus-)Bildung und Unterstützung beim Erwerb von sozialen Kompentenzen bezeichnet. Diese Funktion widerspiegelt die pädagogische Aufgabe der Lehrkraft: Diese versucht, den Kindern fachliches und soziales Wissen zu vermitteln – sei es für die spätere Erwerbsarbeit, sei es für die andern Lebensbereiche.

Doch die Lehrkraft ist nicht nur pädagogisch tätig, sie ist auch SelektorIn; sie ist diejenige, die bestimmt, wie sich die schulische Laufbahn der Kinder entwickelt und welche beruflichen Möglichkeiten ihnen dadurch offen stehen. Dieser Widerspruch, der von den PädagogInnen bisweilen als schmerzhaft erfahren wird, deutet an, dass sich das Bildungssystem unterschiedlichen Forderungen aus seiner gesellschaftlichen Umwelt ausgesetzt sieht. Da diese Forderungen in ihrer Widersprüchlichkeit gerne zu einer Überforderung der Schule führen und Anlass zu endlosen Diskussionen um Schulreformen geben, sollen sie nachfolgend näher angeschaut werden.

Die Forderungen aus der Wirtschaft...

Die Wirtschaft ist das soziale System, welches – über Preise und Zahlungen – den Zugriff auf knappe Güter (Waren, Dienstleistungen, Arbeitskraft etc.) koordiniert[4]. Diese streng ökonomische Formulierung soll verdeutlichen, dass die Wirtschaft ihre Funktion nach ihren eigenen Prinzipien erfüllt und für Forderungen aus der übrigen Gesellschaft nur beschränkt zugänglich ist. Wenn die Öffentlichkeit von der Wirtschaft Rücksichtnahme auf eine ökologische Produktion, menschenfreundliche Arbeitsbedingungen oder – in unserem Fall wichtig – eine ausreichende Anzahl von Lehrstellen für SchulabgängerInnen fordert, dann werden diese Forderungen immer danach beurteilt, ob sie mit wirtschaftlichen Grundannahmen wie Gewinnmaximierung oder dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage vereinbar sind.

Die Politik kann zwar versuchen, über Gesetzesänderungen Druck auf die Wirtschaft auszuüben, doch sie ist dabei immer der Einschränkung unterworfen, dass politische Systeme (zumindest zur Zeit noch) stark an Nationengrenzen gebunden sind, während Wirtschaftsunternehmen den für sie unangenehmen Forderungen mit der Verlegung der Produktion ins Ausland begegnen können. Weiter werden die politischen Entscheidungen – zumindest in einer demokratischen Staatsform – massgeblich durch die personalen und strukturellen Verflechtungen zwischen Politik und Wirtschaft beeinflusst. Schliesslich verarbeitet die Wirtschaft politisch verfügte Regelungen immer eigenständig und selten so, wie sich die Politik das vorgestellt hat – das Beispiel des florierenden (Schwarz-)Marktes für gesetzliche verbotene psychoaktive Substanzen wie Kokain, Heroin oder Ecstasy belegt diese Eigenständigkeit stets von neuem.

... und ihre Bedeutung für die Schule

Für die Schule heisst das, dass sie sich mit Forderungen aus der Wirtschaft konfrontiert sieht, die den wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprechen und nicht auf Erziehungsideale wie Gleichheit und Freiheit zugeschnitten sind. Erschwerend kommt dazu, dass die Ansprüche aus dem Wirtschaftssystem durch die unterschiedlichen ökonomischen Untersysteme geprägt sind und bisweilen widersprüchlich erscheinen. So fordern Lehrbetriebe vornehmlich besseres schulisches (Basis-)Wissen, während für Führungspositionen soziale Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Lösungsorientierung und Kreativität verlangt werden.

Da diese beiden Forderungen – zumindest mit den gängigen Schulkonzepten – nur schwierig gemeinsam zu erfüllen sind, legt die Schule das Schwergewicht in der Regel auf die so genannte Wissensvermittlung[5]. Dies geschieht nicht zuletzt darum, weil auswendig gelerntes Fachwissen besser geprüft werden kann als soziale Kompetenzen, was im Hinblick auf die Selektionsfunktion der Schule vor Vorteil ist. Die Klassifizierung durch Noten wiederum ist für die ArbeitgeberInnen von Bedeutung, da ihre Anstellungsentscheidungen auf die Person zurückgerechnet werden, welche die Entscheidung trifft.[6] Die Personalleitung mag dann aus dem Vorstellungsgespräch und von allfälligen Eintragungen im Abschlusszeugnis einen noch so guten Eindruck von den sozialen Kompetenzen der bewerbenden Person haben: in der Regel wird sie ihren Entscheid aufgrund der Benotung der Hauptfächer treffen, denn mit diesen Noten wird sie die Entscheidung rechtfertigen können, wenn sich später zeigen sollte, dass die angestellte Person für die Firma doch nicht die richtige war.

Die Vernachlässigung anderer Kompetenzen

Diese explizite und implizite Hierarchisierung der schulischen Selektionskriterien spiegelt sich nicht nur an der Schnittstelle zum Erwerbsleben, sondern auch innerhalb des Bildungssystems wieder. So hat man z.B. in Fächern wie Sport, Geschichte, Geographie, Kunst etc. trotz ausgezeichneter Noten keine Möglichkeit, an die Schule anschliessende universitäre Bildungsgänge in zu besuchen, wenn die Noten in den Hauptfächern (normalerweise Landessprache, 1. Fremdsprache, Mathematik) nicht gut sind – egal ob man diese Hauptfächer für den weiteren Bildungsweg oder die berufliche Laufbahn benötigt oder nicht. Es ist einfach nachzuvollziehen, dass durch diese Höherbewertung einzelner Fächer andere Ressourcen wie Kreativität oder Problemlösungsfähigkeit nicht ausreichend genutzt werden – Fähigkeiten, die (wie oben angetönt) auch für die Wirtschaft von immer grösserer Bedeutung sind.

Dieses Defizit wird zusätzlich dadurch verschärft, dass nicht nur in den Haupt-, sondern auch in den so genannten Nebenfächern (zumindest im deutschsprachigen Raum) Lernen weit gehend mit Auswendig-Lernen (von Grammatikregeln, mathematischen Formeln, Jahreszahlen, Flussläufen, biologischen Klassifizierungen etc.) gleichgesetzt wird. Dieses Auswendiglernen wiederum läuft dem Erwerb einer der wichtigsten Kompetenzen in der modernen Gesellschaft mit ihrer enormen Wissensvermehrung zuwider: dem Lernen des Lernens – einer Fähigkeit, die in besonderem Masse mit dem Erwerb von sozialen Fähigkeiten und den oben beschriebenen Ressourcen Kreativität und Problemlösungsfähigkeit gekoppelt werden könnte.[7]

Für den aussen stehenden Beobachter erscheint es so, dass heute erst in Ansätzen erkannt wird, welche enormen Kosten die gegenwärtige Gestaltung von Schulbewertungen mit sich bringt: Weil die für die Organisationen unverzichtbaren Entscheidungsgrundlagen (die Zeugnisse) das Auswendiglernen fördern und sich dabei hauptsächlich auf einige wenige „Haupt“-Fächer stützen, gehen praktisch allen Berufen und den meisten nachschulischen Bildungsgängen Unmengen von für sie entscheidenden Kompetenzen verloren – ein enormer Verlust und zwar nicht nur für die Systeme der Wissenschaft und der Wirtschaft.

Weitere Ansprüche an die Schule

Auf die Auswirkungen, welche die gängigen Selektionsprogramme für die SchülerInnen (und damit für die Schule) haben, kommen wir weiter unten genau so zurück wie auf ihre Bedeutung für die Soziale Arbeit in der Schule. Vorerst soll der Blick jedoch auf einige externe Forderungen an die Schule gelenkt werden, die sich kaum auf die Selektionsfunktion und nur in Ansätzen auf die Wissensvermittlung beziehen. Die Rede ist von dem, was wir oben als „Erwerb von sozialen Kompetenzen“ bezeichnet haben. Die SchülerInnen sollen zu eigenständigen, verantwortungsbewussten BürgerInnen erzogen werden, und weil die Schule eben nicht nur Bildungs- und Selektionsinstanz ist, hat sie auch dafür zu sorgen, dass all die Probleme, welche die moderne Gesellschaft beschäftigen, nicht oder zumindest in vermindertem Mass auftreten. Die Schule ist demnach für unterschiedliche Themen verantwortlich, die ausserhalb des üblichen Fächerspektrums liegen: Sexualaufklärung, Suchtprävention, gegenseitige Akzeptanz der Geschlechter, interkulturelle Toleranz, günstige Ernährungsgewohnheiten etc. – kurz: die Schule sollte in jeder Hinsicht eine gesundheitsfördernde Schule darstellen.

Wenn man mit Luhmann[8] zwischen Sozialisation und Erziehung unterscheidet, so soll die Schule einerseits bestimmte gesellschaftlich unerwünschte Verhaltensweisen (wie Gewalt) und Zustände (wie Sucht) als Erziehung (also als Reihe von bewussten Interventionsversuchen) unwahrscheinlicher machen; andererseits soll sie einen Sozialisationsort darstellen, in welchem die Kinder aufwachsen und soziale Erfahrungen sammeln können, die (indem sie ihre so genannten Ressourcen stärken[9]) sie vor den zu verhindernden Verhaltensweisen/Zuständen schützen. Diese Funktion als Sozialisations- und Erziehungsort rückt die Schule in die Nähe der Familie, und das wiederum gibt einen Hinweis, den man bei der Beantwortung der Frage nutzen kann, warum der Schule in den letzten Jahren immer mehr Erziehungs- und Sozialisierungsaufgaben[10] zugemutet werden.

Die Schule und die Familie

Es braucht keine tief schürfende Gesellschaftsanalyse um zu erkennen, dass sich die gesellschaftlich akzeptierten Formen der Familie in den letzten 100 Jahren grundlegend verändert haben. Die Frauen erledigen zwar auch weiterhin den überwiegenden Teil der häuslichen Arbeiten, aber andererseits haben sie auch in der ausserhäuslichen Erwerbsarbeit mehr Möglichkeiten und nehmen diese auch wahr – zum einen weil sie andere, eher individualisierte Lebensentwürfe haben als ihre Mütter, zum andern weil sie aus ökonomischen Überlegungen auf eine bezahlte Tätigkeit angewiesen sind, da sie allein erziehend sind oder das Einkommen des Mannes für die Familie nicht ausreicht.

Für die Erziehung und die allgemeine Sozialisation der Kinder bedeutet dies, dass sie mehr Zeit auf sich gestellt sind, weil sich die Männer nicht in dem gleichen Mass an der Haus- und Erziehungsarbeit beteiligen (können/wollen), wie sich die Frauen in der Erwerbsarbeit engagieren und daher oft beide Elternteile ausser Haus arbeiten. Wenn dann gewisse manifeste Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen (wie übermässiger Medienkonsum, „Herumlungern“, Respektlosigkeit gegenüber Erwachsenen etc.) in der öffentlichen Diskussion problematisiert, mit noch problematischer wahrgenommenen Phänomenen (wie Drogensucht oder Jugendgewalt) in Verbindung gebracht und der mit der veränderten (Familien-)Betreuungssituation erklärt werden, dann sucht die Öffentlichkeit nach funktionalen Äquivalenten, also nach Ersatzangeboten für die Familie als Sozialisations- und Erziehungsinstitution. Angesichts der allgemeinen Schulpflicht und der grossen Zeitspanne, die Kinder und Jugendliche in der Schule verbringen, liegt die Forderung nahe, dass die Schule die Lücke im Betreuungsangebot schliessen soll.

Die Überforderung des Schulsystems ...,

Diese Betonung der Sozialisations- und Erziehungsfunktion der Schule ist nicht neu. Fatke[11] argumentiert mit Bezug auf historische Quellen, dass die Schule „unter anderem deshalb entstanden ist, weil die Familie in Folge der zunehmenden Industrialisierung im Europa des 19. Jahrhunderts immer weniger in der Lage war, die Erziehung und Qualifizierung der Kinder selbständig zu gestalten“. Nach einem längeren Zeitraum, in welchem wieder mehr Erziehungsaufgaben durch die Familie übernommen werden konnten und in welchem sich die ausserschulische Jugendarbeit in der Freizeitbetreuung etablierte, scheint sich jetzt wieder eine vermehrte Delegierung dieser Aufgaben an die Schule einzustellen. Über die Gründe dieser Entwicklung lässt sich nur spekulieren. Ein Grund scheint in der gesteigerten Risiko- und Problemsensibilisierung der modernen, westlichen Gesellschaft zu liegen, die auch als wichtiger Faktor für die Ausdifferenzierung von Prävention und Gesundheitsförderung angesehen werden kann[12]; eine andere mögliche Mitursache mag in der Struktur der Schule liegen, die als (staatliche) Organisation bis zu einem gewissen Mass zur Übernahme von neuen Aufgaben verpflichtet werden kann.

Für die Schule führt diese Zunahme an Aufgaben, die nicht direkt mit dem Erwerb von schulischem Wissen in Zusammenhang stehen, schnell zu einer generellen Überforderung. Eine Anpassung der Lehrpläne an die neue Situation ist schwierig, weil sie in der Regel nicht im Bildungssystem erfolgt, sondern im Umweg über politische Entscheidungen. Zu der politischen Opposition kommt die inhaltliche Opposition: Es ist in der Regel kaum möglich, einmal etablierte Fächer aus dem Lehrplan zu entfernen oder nur den Zeitanspruch für die Vermittlung ihrer Lerninhalte zu verringern. Dazu kommt, dass die enorme Wissens- und Technologie-Entwicklung in der übrigen Gesellschaft laufend neue potenzielle Fächer und Themen für den Unterricht generiert.

Fasst man die bisherigen Überlegungen zusammen, so kann man sagen, dass sich das Bildungssystem im allgemeinen und die Organisationsform Schule im speziellen ihrer sich laufend verändernden Umwelt nicht in ausreichendem Ausmass anpassen können. Den umfangreichen Veränderungsansprüchen (neue Inhalte und Sozialisierungsaufgaben) stehen nur langsam veränderbare Systemstrukturen gegenüber. Da die Forderungen aus der Umwelt nicht einfach ignoriert werden können und eine adäquate Anpassung der Systemstrukturen in absehbarer Zeit nicht möglich ist, tendiert das soziale System Schule dazu, die daraus entstehenden Probleme zu delegieren: an die Lehrkräfte, an die Kinder und an die Familien.

... der Lehrkräfte ...

Von den Lehrkräften wird die sachgemässe Bearbeitung der neuen Ansprüche an die Schule verlangt. Sie sollen Suchtprävention und Sexualpädagogik in ihren Unterricht integrieren und mit den SchülerInnen neue Technologien anwenden; sie sollen "schwierige" Kinder und Jugendliche "integrieren" und die Eltern der SchülerInnen in den Schulzyklus einbeziehen; sie sollen sich in zahlreichen Sitzungen vernetzen, koordinieren und die Qualität ihrer Arbeit sichern, und sie sollen Projektwochen organisieren und ganz generell dafür sorgen, dass die Schule zur lebenswerten Umwelt für Lehrkräfte und SchülerInnen wird.

Dies alles wird gefordert, ohne angemessene strukturelle Rahmenbedingungen wie kleinere Klassen, Reduktion des Fachunterrichts oder nur bezahlte Überzeit zur Verfügung zu stellen, denn alle diese Massnahmen kosten Geld und verlangen Entscheidungen, welche nicht im Bildungssystem, sondern in der Politik getroffen werden.

Damit bleibt es der einzelnen Lehrkraft überlassen, wie sie mit dieser Überforderungssituation umgeht. Einzelne LehrerInnen bringen ausreichend Freude, Interesse und auch Gelassenheit auf, um konstruktiv mit den unterschiedlichen Anforderungen umzugehen. Andere wiederum grenzen sich so weit wie möglich ab und versuchen, zeitliche Ressourcen zu schaffen, indem sie auf jegliche Weiterentwicklung ihres Fachunterrichtes verzichten. Die zunehmenden Fälle von Burnout – eine Studie in Basel geht von über 30 Prozent "ausgebrannten" LehrerInnen aus – und die immer häufigeren Berufswechsel deuten allerdings darauf hin, dass die Belastungsgrenze für die Lehrkräfte erreicht, wenn nicht überschritten ist[13].

... und der Kinder

Die enorme Belastung, welche der Schulbetrieb durch die steigenden Anforderungen verarbeiten muss, wirkt sich natürlich auch auf die SchülerInnen aus. Soziale Konstrukte wie "Lernschwächen" oder "Verhaltensauffälligkeiten" isolieren die betreffenden Kinder fast augenblicklich, denn die Lehrkraft hat in der Regel weder die persönliche Energie noch die strukturelle Unterstützung, um diese Kinder in den normalen Klassenbetrieb zu integrieren und das Potenzial, das ohne Zweifel auch in ihren "Störungen" steckt, konstruktiv zu nutzen. So werden die "schwierigen" Kinder und Jugendlichen in Sonderklassen zusammengefasst, mit Tabletten behandelt (Stichwort: Ritalin) oder mit Sanktionen bis hin zum Schulausschluss belegt – Hauptsache, sie behindern den Unterricht nicht und gefährden so die Erreichung der im Lehrplan formulierten Lernziele und der Selektionsvorgaben der Wirtschaft.

Diese Ausschlussmechanismen, die sich in der Form von Stigmatisierungen[14] verfestigen, beseitigen die Probleme nur oberflächlich und schaffen neue Probleme. Das Resultat dieser Entwicklung ist der immer wieder festzustellende Kreislauf des „Mehr-desselben“: mehr Probleme – mehr Ausschliessungen – mehr Probleme, ohne dass andere, tiefer greifende Problemlösungsversuche ins Blickfeld gerieten.

Zuweisungen auf allen Ebenen

Die Folgen dieser auf Exklusion ausgerichteten Problemlösungsstrategie für die betroffenen Kinder und ihre Familien sind schwer wiegend. Der Ausschluss – die „Abschiebung“ in die Sonderklasse, die Behandlung als Störenfried – wird von den Kindern in der Regel als Folge von Eigenverschulden interpretiert und nicht mit den mangelnden strukturellen Voraussetzungen im System Schule in Verbindung gebracht. Angesichts der Bedeutung, welche die Schule und der schulische Erfolg für die Identitätsbildung (als Perspektive der Selbstbeobachtung) resp. für die Strukturierung der sozialen Adresse[15] (als Perspektive der Fremdbeobachtung) hat, wirken die andauernd als negativ empfundenen Schulerlebnisse über Jahre hinweg nach und hindern die Jugendlichen bei der Entfaltung ihrer spezifischen Stärken.

Natürlich wälzt die Schule unter den gegebenen Strukturbedingungen nicht zu bewältigenden externen Erwartungsdruck nicht nur auf die Kinder ab. Ins Zentrum der Kritik rücken neben dem „Staat“, der keine ausreichenden Mittel zur Verfügung stellt, vor allem die Eltern, die „zu wenig auf ihre Kinder schauen“ und sie schulisch und in der Freizeit „nicht ausreichend unterstützen“. Die Eltern wiederum sehen sich nicht nur diesen Vorwürfen ausgesetzt, sondern auch noch andern gesellschaftlichen Zwängen und Erwartungen bezüglich ihrer Elternrolle – Erwartungen, die oft in Konflikt mit ihren eigenen Lebensentwürfen und/oder den ökonomischen Notwendigkeiten stehen. Die Folge ist – wenig überraschend – dass sie die externe Kritik mit Gegenkritik kontern, was zu einem Klima führt, welches durch Vorwürfe geprägt ist: von den Eltern an die Schule und umgekehrt, von beiden an die Politik, von der Politik an die Wirtschaft und an die Eltern usw.

Einfache Lösungsphantasien versus ...

Wenn wir ein Zwischenfazit ziehen wollen, so können wir sagen, dass die Diskussion um die Funktion und die Form der modernen Schule durch ein Klima von wechselseitigen Zuweisungen geprägt ist. Die beteiligten Systeme – die Schulen, die Lehrkräfte, die SchülerInnen, die Eltern, die Wirtschaft, die Pädagogik, die Politik – nehmen Zustände als „problematisch“ war und schreiben die Verantwortung andern Systemen zu. Hinter diesen Schuldzuschreibungen stehen vereinfachende Lösungsphantasien, welche implizieren, dass „alles anders wäre, wenn ...“. „Wenn die Wirtschaft nicht nur auf die Benotung der Hauptfächer schauen würde ...“. „Wenn die Politik mehr Gelder bewilligen würde ...“. „Wenn die Eltern ihre Kinder besser betreuen würden ...“. „Wenn die Lehrkräfte engagierter wären ...“. „Wenn die Kinder nur ein wenig disziplinierter wären ...“.

Solche „Wenn-Aussagen“ unterschätzen die Eigendynamik und die Komplexität sozialer und psychischer Systeme. Sie gehen davon aus, dass man in solche Systeme kausal intervenieren kann, d.h. dass auf einen bestimmten Input (etwa eine Forderung) ein bestimmter Output folge. Wir können täglich beobachten, dass dies nicht der Fall ist. Soziale und psychische Systeme sind – um es in der Sprache von Heinz von Förster auszudrücken – keine trivialen Maschinen, sondern sich selbst organisierende Systeme, die Irritationen (wie Ansprüche) von aussen nach eigenen Prinzipien auswählen und behandeln.

Wenn man beachtet, wie viele dieser hoch komplexen Systeme sich in der relevanten Umwelt der Schule befinden, wie viele Irritationen die Schule also aufnehmen und verarbeiten oder ignorieren muss, dann ist die Erwartung, dass die gesellschaftlich konstruierten Probleme der Schule und ihres Umfeldes mit punktuellen Änderungen einfach „gelöst“ werden könnten, eine Überforderung für alle Beteiligten. Die Schule entwickelt sich – wie alle nicht trivialen Systeme – evolutionär, was eben nichts anderes bedeutet, als dass sie durch Interventionen von aussen NICHT kausal beeinflusst werden kann.

... komplexe Verhältnisse

An dieser Stelle liegt die Frage nahe, was man denn noch machen kann, angesichts der Unmöglichkeit, Systeme kausal so zu beeinflussen, dass das System "das macht, was man will". In andern Worten: Soll man sich noch weiter engagieren, wenn doch alles nichts bringt? Zur Beantwortung dieser Frage soll noch einmal ein theoretisch inspirierter Blick auf die Funktionsweise von sozialen Systemen wie dem Bildungssystem oder der Schule geworfen werden.

Wir haben oben gesehen, dass Systeme operativ geschlossen operieren. Das bedeutet, dass die Systeme zwar auf Irritationen aus ihrer Umwelt angewiesen sind, dass es aber ihre eigenen Strukturen sind, die auswählen, welche Irritationen als Informationen aufgenommen und wie diese Informationen verarbeitet werden. An unserem Beispiel erläutert heisst das, dass das Bildungssystem und die Schulen als Bildungsorganisationen ihre Umwelt laufend auf verwertbare Informationen abchecken und diese Informationen in Entscheidungen über Lehrinhalte, Bewertungsstrukturen, Klassengrössen, pädagogische Richtlinien, Verweisung von störenden SchülerInnen etc. umarbeiten. Was Umwelt für ein System ist, bestimmt wiederum das System selbst: Die Religion und die Kunst sind für die Schule als Umwelt zwar nicht bedeutungslos, aber nicht so relevant wie die Systeme der Wirtschaft, der Politik oder der Wissenschaft, und das Bewusstsein des Briefträgers, der jeden morgen die Post bringt, ist als System nicht so bedeutend wie die psychischen Systeme der Lehrkräfte, der SchülerInnen oder der Eltern.

Aber auch bei diesen für die Schule bedeutenden Umweltsystemen gibt es Unterschiede. Politische Entscheidungen haben eine andere Bedeutung für das Bildungssystem als die Suchtprobleme einer Schülerin oder die Kritik am Lehrplan durch eine Elterngruppe. Trotzdem werden auch diese Irritationen durch das System aufgenommen. Angesichts dieser unzähligen Einflüsse, welche durch das Bildungssystem verarbeitet werden;angesichts der Irritationen, die es selbst für die Systeme in seiner Umwelt darstellt, und angesichts der Tatsache, dass sich auch diese Systeme wechselseitig beeinflussen, ohne sich kontrollieren zu können – angesichts dieser hoch komplexen Verhältnisse, wird die theoretische Aussage besser verständlich, dass man Systeme nicht kausal beeinflussen kann. Zu viele andere Einflussfaktoren müssen ignoriert werden, wenn man Veränderungen eines Systems bestimmten Interventionen zuschreiben will. Anders ausgedrückt: Wenn kausale Wirkungen von Interventionen festgestellt werden, dann handelt es sich bei der dieser Beobachtung notwendigerweise um eine Konstruktion, die mit zahlreichen Verkürzungen arbeitet.

Resignation oder Gelassenheit?

Das wiederum heisst nicht, dass solche Vereinfachungen nutzlos sind. Man kann sogar sagen, dass Kommunikation generell immer Konstruktion und damit vereinfachend ist und dass das Zusammenleben von Menschen nicht in eine Ordnung gebracht werden könnte, wenn wir diese Vereinfachungen nicht hätten. Entscheidend für unser Thema ist jedoch, dass die Konstruktivität aller psychischen und kommunikativen Operation (an-)erkannt wird. Alle Kritikpunkte und Vorwürfe, die in der Diskussion um eine "bessere" Schule gegenseitig geäussert werden, sind Kritik aus einer ganz bestimmten Systemperspektive. Sie sind keine allgemein gültige Wahrheiten, sondern die Wahrheiten von spezifischen Systemen; sie sind nicht rational im übergreifenden Sinn, sondern immer nur systemrational.

Dies zu erkennen, heisst nicht, auf die eigene Irritationen zu verzichten. Es heisst nicht, dass man sich als Mutter nicht mehr im Elternrat engagieren soll oder als Lehrerin in der Politik, um die (aus eigener Sicht) wünschbaren Veränderungen im Bildungssystem zu bewirken. Es heisst nur: einzusehen, dass die eigene Sichtweise nicht die einzige ist; es heisst, sich einzugestehen, dass die Wirtschaft, die Politik, die einzelnen Lehrkräfte, Eltern und SchülerInnen alles eigenständige Beobachter sind, welche das Bildungssystem aus ihrem Kontext heraus beobachten und dementsprechend auch ganz unterschiedliche Anforderungen und Wünsche an die Schule haben. Wenn diese Einsicht – die Theorie spricht hier von Kontingenzbewusstsein; dem Bewusstsein, dass man die Dinge auch anders sehen kann – die eigentlichen Probleme auch nicht lösen kann, so kann sie doch dazu beitragen, dass die Beteiligten den Alltag mit mehr Gelassenheit angehen können und die gegenseitigen Vorwürfe an Bedeutung verlieren.

Soziale Arbeit in der Schule

Wenn wir nachfolgend die Funktion(en) anschauen, die Sozialarbeit, Sozialpädagogik, soziokulturelle Animation andere Formen von Sozialer Arbeit wie die Prävention für die Schule erfüllen können und sollen, dann gehen wir von der eben beschriebenen, hoch komplexen Situation aus. Soziale Arbeit in der Schule ist demnach Soziale Arbeit in einem Umfeld, dass durch eine enorme Vielfalt von internen und externen Wünschen und Forderungen geprägt ist, aber nicht annähernd über ausreichende Strukturen verfügt, um alle diese Ansprüche zu erfüllen.

In diesem Klima der Überforderung und der allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Zustand des Bildungssystems im allgemeinen und der Schule im besonderen, steigt die Hoffnung vieler Beteiligter, dass die Soziale Arbeit wenn nicht alle, so doch einen bedeutenden Teil der Probleme der Schule lösen kann. Sie soll helfen, die Probleme der „schwierigen“ Kinder und ihrer Familien zu bewältigen und sie soll die Organisation Schule dabei unterstützen, Strukturen zu entwickeln, welche aus ihnen einen gesundheitsfördernde Lebenswelt machen, in der Kinder und Jugendliche aufwachsen können, ohne süchtig, gewalttätig oder depressiv zu werden.

Angesichts der Vielfalt der Problemlagen, der unterschiedlichen Ansprüche von allen Seiten, der beschränkten Mittel und der oben beschriebenen Unwahrscheinlichkeit von kausaler Beeinflussung, kann schon zu diesem Zeitpunkt davon ausgegangen werden, dass auch die Soziale Arbeit die Probleme der Schule nicht wird „lösen“ können. Wer eine solche Lösung von der Sozialarbeit verlangt, blendet die Komplexität der Zusammenhänge aus und führt eine Überforderung (die der Schule) in die nächste (jene der Sozialen Arbeit) über. Neben den Enttäuschungen, Burnouts und Vorwürfen, die solche unrealistischen Erwartungen mit sich bringen, verbauen sie auch den Blick auf die Möglichkeiten, die Soziale Arbeit in der Schule trotz aller Einschränkungen hat.

Diese Möglichkeiten sollen hier näher betrachtet werden, wobei die folgenden Ausführungen nach der Unterscheidungskette Behandlung, Prävention und Früherkennung gegliedert werden. Es geht also darum zu fragen, ob Soziale Arbeit in erster Linie bestehende Probleme wie Suchtmittelkonsum oder Gewalttätigkeit bearbeiten soll oder ob sie eher präventiv wirken soll, indem sie die Schule dabei unterstützt, Strukturen zu entwickeln, welche diese Probleme wenn auch nicht verhindern, so dann doch unwahrscheinlicher machen.

Soziale Arbeit als Problembehandlung ...

In der Regel ist es wohl so, dass der Entscheid für die Einrichtung einer Sozialarbeitsstelle in einem Schulhaus durch momentanen Problemdruck geprägt ist. Die Lehrkräfte nehmen immer mehr Kinder/Jugendliche als „störend“ wahr – sei dies nun wegen sozialen Fehlverhaltens oder wegen ungenügender Schulleistungen. Sie wissen in der Regel, dass es aus pädagogischen und andern Gründen wünschbar wäre, diese SchülerInnen so lange wie möglich in ihrer Stammklasse zu behalten. Andererseits sind sie genötigt, die Lehrpläne einzuhalten und sehen sich dabei einem enormen Zeitdruck ausgesetzt, der nicht nur durch den ständig zunehmenden Schulstoff begründet ist, sondern auch durch umfangreiche Nebenbelastungen wie Sitzungen aller Art, Elternarbeit und Qualitätssicherung.

Angesichts dieses Problemdruckes ist es verständlich, dass es attraktiv erscheint, eine Fachperson in der Organisation zu wissen, die für die Behandlung von Problemen ausgebildet ist, welche über rein schulische Belange und leichte Verhaltensauffälligkeiten hinausgehen. Wenn SchülerInnen durch ihr Verhalten den Unterricht massiv stören oder wenn die Abnahme der schulischen Leistungsfähigkeit auf schwer wiegende familiäre Probleme schliessen lässt, dann ist es für die einzelne Lehrkraft beruhigend, die Kinder oder Jugendlichen der Obhut einer Sozialarbeiterin zu überlassen und die eigene Energie wieder der Arbeit in der Klasse widmen zu können.

... Triage/Früherkennung ...

Wenn die Soziale Arbeit in erster Linie für die Behandlung von aktuellen Problemen in die Schule integriert wird, besteht die Gefahr, dass die Kapazität einer solcher Stelle bald einmal erschöpft ist. Die Zahl der potenziell behandelbaren, ausserschulischen Probleme ist so gross, dass es in einem grösseren Schulhaus nicht eine Sozialarbeitsstelle braucht, um eine adäquate Beratung zu gewährleisten, sondern mehrere.

Da ein solcher Ausbau der Sozialen Arbeit in einem Schulhaus in der Regel weder finanziert werden kann noch gewünscht wird, bietet sich an, die Funktion der Sozialen Arbeit bei der Bearbeitung von manifesten Problemen eher in der Triage als in der eigenständigen Behandlung zu sehen. Gerade in Städten und grösseren Gemeinden liegt es nahe, Rückgriff auf externe Angebote wie Jugend-, Familien- oder Suchtberatungsstellen zu nehmen.

Mit dieser Triage-Funktion rückt ein weiteres Betätigungsfeld Sozialer Arbeit in der Schule ins Blickfeld: die Früherkennung. Während die Triage die Aufgabe hat, SchülerInnen mit schulischen und ausserschulischen Problemen an die geeigneten Fachstellen weiterzuvermitteln, resp. eine solche Weitervermittlung (etwa über ein Gespräch mit den Eltern) einzuleiten, versucht die Früherkennung, die Probleme bereits in ihren Ansätzen zu erkennen.

Früherkennung unterscheidet sich insofern von Triage, als sie im sozialen System „Schule“ nicht einfach an die Sozialarbeit delegiert werden kann. Früherkennung ist Strukturarbeit, die bewirken soll, dass die Aufmerksamkeit der Lehrkräfte für sich abzeichnende Probleme bei den SchülerInnen steigt und dass Gefässe eingerichtet werden, um die gemachten Beobachtungen auszutauschen und die geeigneten Schritte einzuleiten. Die Erfahrungen mit dem Schweizer Programm Schulteam zeigen[16], dass eine solche Strukturarbeit nur in einem längerfristigen Prozess erfolgreich zu gestalten ist. In der Regel werden im Rahmen eines solchen (Schulentwicklungs-)Prozesses zahlreiche strukturelle Schwächen wie unklare Kommunikationsstrukturen, uneinheitliche Regeln und Regelauslegung, schlechtes Klima im Schulhaus oder im Lehrkörper etc. aufgedeckt, bei deren Bearbeitung immer auch mit Widerständen zu rechnen ist.

... und Prävention

Die Erfahrungen mit Schulteam zeigen genau so wie theoretische Überlegungen[17], dass man Früherkennung als Schnittstelle zwischen Prävention (von noch nicht bestehenden Problemen) und Behandlung (von bestehenden Problemen) denken kann. Die Einrichtung und Pflege von Früherkennungsstrukturen entspricht weit gehend dem, was gemeinhin als „strukturelle Prävention“ beschrieben wird. Dies deutet darauf hin, dass die Aufgaben der Sozialen Arbeit in der Schule mit den Bereichen Problembehandlung, Triage und Früherkennung noch keineswegs erschöpft sind.

Schon seit vielen Jahren ist die Schule in Europa wie in den USA der wichtigste Interventionsort für jegliche präventiven und gesundheitsfördernden[18] Bemühungen – angefangen von baulichen Veränderungen (etwa Schulplatz- und Raumgestaltung) über Massnahmen zur Verbesserung des Schulhausklimas (Festanlässe, klassenübergreifende Aktivitäten etc.) bis hin zu explizit problembezogenen Aktivitäten (Suchtinformationen, Kurse zur Verhinderung von Gewalttätigkeiten) etc. Die immense Vielfalt der möglichen Tätigkeiten im Bereich der Prävention deutet darauf hin, dass die Unterstützungsmöglichkeiten der Schule durch die Soziale Arbeit – abgesehen von finanziellen Beschränkung – praktisch unbegrenzt sind. Sie deutet auch darauf hin, dass nicht nur die Sozialarbeit, sondern auch andere Professionen der Sozialen Arbeit wie die Sozialpädagogik und die Soziokulturelle Animation (die frühere Jugendarbeit) einen Beitrag an die Verbesserung der Schulsituation leisten können.

Wie kann die Soziale Arbeit in die Schule integriert werden?

Dass die Soziale Arbeit die Schule bei der Bewältigung ihrer vielfältigen Aufgaben unterstützen kann, beweisen die schon recht zahlreichen Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die in Projekten oder im Rahmen von Festanstellungen in Schulen tätig sind. In der Folge und zum Abschluss dieser Ausführungen soll ein theorie-geleiteter Blick auf einen Aspekt geworfen werden, der einen massgeblichen Einfluss auf den Erfolg dieser Unterstützung haben könnte: die Form der Zusammenarbeit zwischen Schule und Sozialer Arbeit.

Es stellt sich die Frage, ob Soziale Arbeit in der Schule besser in Projektform – also zeitlich beschränkt – oder in der Form einer Festanstellung einer Fachkraft der Sozialen Arbeit in der Organisation Schule erfolgen soll. Es gibt Schulentwicklungsprojekte, die durch die Schulen als sehr positiv empfunden werden und zu nachhaltigen Veränderungen führen, und es gibt Schulen, die auf die Unterstützung ihrer Schulsozialarbeiterin oder ihre Schulsozialarbeiters nicht mehr verzichten könnten und möchten. Auf der andern Seite gibt es Projekte, deren Wirkung bald nach Projektende verpufft, und Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die sich in ihrem Schulhaus isoliert und als reine „Problem-Deponierungsinstanz“ vorkommen. Für eine Festanstellung sprechen die Langfristigkeit der Interventionen, welche die Chancen auf eine nachhaltige Wirkung der Massnahmen erhöhen. Andererseits garantiert auch die Festanstellung nicht, dass die Massnahmen wirklich kohärent und auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sind.

Projekte mit externer Projektleitung haben zudem den Vorteil, dass die Projektleitung nicht Mitglied der Organisation Schule ist. Das kann sich vor allem dann als günstig erweisen, wenn die Schulentwicklung auf Widerstände stösst, was die Alltagsarbeit von fest angestellten SchulsozialarbeiterInnen und –pädagogInnen mehr belastet, als jene der Projektleitung, die nur punktuell mit dem Projektteam zusammen arbeitet.

Wirkliche Zusammenarbeit

Insgesamt kann man sagen, dass die Soziale Arbeit die Schule sicher in beiden Formen – mittels Projekten oder im Rahmen einer Festanstellung – unterstützen kann. Es ist auch denkbar, dass ein Projekt (z.B. eines im Bereich der Früherkennung) durchgeführt wird, an welchem sich nicht nur die Lehrkräfte, sondern auch die Fachkraft für Soziale Arbeit beteiligt, die an der Schule angestellt ist. Wichtiger als die Organisationsform scheint die Qualität der Zusammenarbeit.

Wie jedes soziale System ist auch die Schule operativ geschlossen, d.h. sie bestimmt selbst, was sie als informativ behandelt und welche Folgen diese Information hat. Für Soziale Arbeit in jeder Form stellt sich unter dieser Voraussetzung die Frage, wie sie zusammen mit der Schule nachhaltige Strukturveränderungen initiieren kann – Veränderungen, die helfen, die schwierige Schulsituation für alle Beteiligten erträglicher zu machen. Die Chance, dass ein nachhaltiger Veränderungsprozess eingeleitet und fortgesetzt werden kann, steigt, wenn eine möglichst tief greifende Partizipation ermöglicht wird.

Die Integration der Fachkraft für Soziale Arbeit in die Organisation Schule im Rahmen einer Festanstellung reicht dazu nicht aus. Organisationen teilen sich intern in weitere Untersysteme auf, für welche die andern Systeme eine interne Umwelt darstellen, durch die sie sich nicht vorbehaltlos beeinflussen lassen. Wenn es einer Schulsozialarbeiterin nicht ermöglicht wird, die angestrebten Veränderungen zusammen mit den Lehrkräften, der Schulhausleitung und allenfalls mit der Schulpflege anzugehen, wird ihre Wirkung auf kurzfristige Projekte oder einzelne Aktivitäten beschränkt bleiben oder sie wird ausschliesslich als willkommene Fachkraft gesehen, der man die „schwierigen“ Kinder abgeben kann und der man ansonsten keine Kompetenzen einräumt.

Abschliessende Bemerkungen

Angesichts der oben beschriebenen hoch komplexen Problemkonstellationen, denen sich die moderne Schule ausgesetzt sieht, ist es vermessen zu hoffen, dass die Soziale Arbeit die Probleme der Schule lösen könnte. Andererseits gibt es durchaus gute Gründe für die Annahme, dass die Soziale Arbeit die Schule bei der Bewältigung ihrer vielen Aufgaben unterstützen kann – insbesondere in jenem Bereich der Erziehung, der nicht mit dem Wissenserwerb, sondern mit dem Erwerb von sozialer Kompetenz verbunden ist. Wenn die gesellschaftliche Funktion der Schule auch in diesem Bereich liegt und nicht nur in der Bildung und in der sozialen Selektion, dann muss die Schule bei der Erfüllung der entsprechenden Aufgaben unterstützt werden.

Idealerweise würde eine solche Unterstützung durch eine grundsätzliche Neukonzeption des Schulwesens erfolgen. Die endlose Geschichte regional begrenzter und begrenzt erfolgreicher Schulreformen zeigt jedoch, wie schwierig eine solche Neukonzeption ist. Die Widerstände, denen sich die Reformbemühungen von allen Seiten ausgesetzt sehen, sind gross, und oft führen diese Widerstände dazu, dass sich die Reform in eine ganz andere Richtung entwickelt als erhofft und bald durch eine neue Reform abgelöst wird, für die dasselbe gilt. Das wiederum soll nicht heissen, dass die Bemühungen um eine „bessere“ Schule eingestellt werden sollen; schliesslich gibt es Länder, denen es gelingt, die beiden sich bisweilen widersprechenden Funktionen der Erziehung und der sozialen Selektion mit weniger Reibungen zu erfüllen.[19]

Bis eine grundsätzliche Neuorientierung im Schulwesen erreicht ist, scheint es ratsam, ganz pragmatisch nach Wegen zu suchen, die zu einer langsamen und dafür kontinuierlichen Verbesserung der Situation beitragen. Die vermehrte Zusammenarbeit von Schule und Sozialer Arbeit könnte ein solcher Weg sein, so lange es sich wirklich um eine Zusammenarbeit handelt und weder die Schule die Soziale Arbeit (nur) als Abgabestelle für „Problemkinder“ missbraucht, noch die Soziale Arbeit die Schule mit Haltung brüskiert, sie wisse allein, was gut für die Schule sei.

Dies ist ein schwieriger Weg – ein Weg mit vielen Steinen und Windungen, und ein Weg, der kaum Hoffnungen auf einfache „Lösungen“ lässt. Trotzdem scheint es ein Weg, der vermehrt beschritten werden sollte, denn schliesslich sind kleine Verbesserungen immer noch besser als keine Verbesserungen.

Literatur

· Fatke, Reinhard, 2000: Schule und Soziale Arbeit – Historische und systematische Aspekte. In: SuchtMagazin 3/00: 3-13

· Goffman, Erving, 1975: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt

· Hafen, Martin, 1999: Könnte „Schulteam“ zum Leitbild für Präventionsarbeit werden? In: SuchtMagazin 6/1999: 3-12

· Hafen, Martin, 2001: Die Funktion der Prävention für die Gesellschaft. In: Prävention&Prophylaxe 1/2001: 28-32

· Hafen, Martin, 2001b: Die Begrifflichkeit im Präventionsbereich – Verwirrung auf allen Ebenen. In: Abhängigkeiten 1/2001: 33-49

· Hafen, Martin, 2002: Das weite Feld von Prävention und Gesundheitsförderung. In: SuchtMagazin 1/2001: 34-43

· Luhmann, Niklas, 1987: Sozialisation und Erziehung. In: Soziologische Aufklärung 4 – Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Opladen: 173-181

· Luhmann, Niklas, 1991: Soziologie des Risikos. Berlin/New York

· Luhmann, Niklas, 1994: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.

· Luhmann, Niklas, 2000: Organisation und Entscheidung. Opladen/Wiesbaden

· Luhmann, Niklas; Schorr, Karl Eberhard, 1982: Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a. M.

· Luhmann, Niklas; Schorr, Karl Eberhard, 1986: Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a. M.

· Luhmann, Niklas; Schorr, Karl Eberhard, 1988: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Frankfurt a. M.



[1] Der Sozialen Arbeit werden in der Folge nach schweizerischem Vorbild die Professionen Sozialarbeit, Sozialpädagogik und soziokulturelle Animation zugerechnet. Weiter wird Prävention (auch, aber nicht nur, denn Prävention gibt es auch im Medizin- und im Rechtssystem) als Funktion der Sozialen Arbeit verstanden.

[2] Vgl. dazu u. a. Luhmann/Schorr, 1982, 1986 und 1988

[3] Luhmann, 1997: 977

[4] Vgl. dazu ausführlich Luhmann, 1994

[5] Die Systemtheorie Luhmanns geht davon aus, dass man Wissen nicht vermitteln, sondern nur versuchen kann, Wissensaneignung anzuregen. Was von den schulischen Angeboten aufgenommen und wie es verarbeitet wird, ist bei jedem Schüler und bei jeder Schülerin unterschiedlich.

[6] Vgl. dazu Luhmann, 2000: 294f.

[7] Bei allem bleibt unbestritten, dass die Kinder gewisse Grundkompetenzen wie Rechtschreibung oder Fremdsprachen-Vokabeln (auswendig) lernen müssen. Die zu klärende Frage bleibt dann, was für das spätere Leben (inkl. der Erwerbslaufbahn) unabdingbar ist und WIE diese Inhalte vermittelt werden könnten, damit andere Kompetenzen gleichzeitig mehr gefördert werden.

[8] 1987

[9] Es bliebe theoretisch und auch empirisch zu erforschen, was man denn „Lebenskompetenzen“ wie ‚Nein-Sagen-Können’, ‚Kreativität’, ‚Konfliktfähigkeit’ etc. verstehen könnte. Heute werden diese Begriffe in der Regel metaphorisch verwendet, was dazu führt, dass sie breit genutzt werden und bei jeder Verwendung eine ganz eigene Vorstellung hinter dem Begriff steht.

[10] Der Begriff der ‚Sozialisierungsaufgabe’ oder ‚Sozialisierungsfunktion’ ist gebräuchlich und wird aus diesem Grund hier verwendet, obwohl er eigentlich unpräzis ist. In der neueren Systemtheorie ist von Sozialisierung immer dann die Rede, wenn KEIN kommunikativer Interventionsversuch vorliegt, der eine bestimmte Veränderung einer Person bezweckt, so wie das bei Erziehung im allgemeinen und bei Bildung im besonderen, aber auch bei einer Therapie der Fall ist. Die Folge ist, dass man niemanden „sozialisieren“, sondern nur Strukturen anbieten kann, in denen eine als günstig bewertete Sozialisation stattfinden kann. Wenn wir ganz theorienahe formulieren, muss man natürlich eingestehen, dass es auch bei der Erziehung massive Einschränkungen gibt: Man kann – wohl zum Glück – keinen Menschen durch Erziehung direkt kausal beeinflussen, denn die Psyche des Menschen und die Zahl von andern Einflussfaktoren sorgen dafür für viele zu komplexe und undurchsichtige Verhältnisse. Dies soll Erziehende, TherapeutInnen, Präventionsfachleute etc. natürlich nicht davon abhalten, sichtbare Resultate ihren eigenen Interventionen zuzurechnen, denn anders können sie gar nicht arbeiten.

[11] 2000: 6

[12] Vgl. allgemein zur Risikosensibilisierung: Luhmann, 1991 und zur (erhofften) risikomindernden Funktion der Prävention Hafen, 2000

[13] Vgl. dazu u.a. Beobachter 16/2002 (17-23): „Für Lehrer ein Klima zum Davonlaufen“

[14] Vgl. dazu etwa Goffman (1975); die Systemtheorie spricht im Zusammenhang mit ‚Stigmata’ nicht von einer Beschädigung der sozialen Identität wie Goffman, sondern von einer Beschädigung der sozialen Adresse. Siehe dazu auch die folgende Endnote.

[15] Der Begriff der sozialen Adresse wird in der Systemtheorie verwendet, um die Behandlung von Menschen/Individuen in der Kommunikation zu umschreiben. Die soziale Adresse eines Kindes unterscheidet sich grundsätzlich, ob es sich am Sozialsystem Familie partizipiert oder am System Schule oder an einer Organisation, bei der es sich um eine Lehrstelle bewirbt. Die Rolle ist ein (wichtiger) Aspekt der sozialen Adresse, aber bei weitem nicht der einzige (denken wir etwa an Merkmale wie Geschlecht, Hautfarbe etc.), welcher die kommunikative Behandlung von Menschen beeinflusst. Die oben erwähnte Stigmatisierung entspricht in diesem Sinn einer Beschädigung der sozialen Adresse – einer Beschädigung, die in der Regel nur mit grossem kommunikativem Aufwand beseitigt werden kann.

[16] Vgl. zu diesem Programm: SuchtMagazin 6/1999 und darin insbesondere Hafen (1999)

[17] Vgl. dazu Hafen (2002)

[18] Da Massnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung in Settings wie der Schule kaum zu unterscheiden sind, werden die beiden Begriffe für die beschriebenen Massnahmen synonym verwendet. Zu unterscheiden davon ist Gesundheitsförderung im Sinne Public Health, welche einen Oberbegriff darstellt und insbesondere auch politische Bemühungen für eine gesundheitsförderliche Umwelt der Menschen darstellt. Vgl. dazu Hafen (2001b)

[19] Zu denken ist da etwa an Finnland, welches es geschafft hat, bei weniger Wochenstunden und mehr Ferien und starken Bemühungen um die Integration möglichst aller Kinder, in der viel zitierten Pisa-Studie einen der vordersten Plätze zu erringen. Bevor man jedoch daran denkt, solche Modelle einfach zu kopieren, sollte man sich bewusst sein, dass die Rahmenbedingungen in Finnland ganz andere sind, als hier in der Schweiz.