Vortrag
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Peter Fuchs
Die Zeit der Kommunikation
Meine Damen und Herren,
wir treffen uns hier gleichsam zwischen den Residenzen, in denen wir wissenschaftlich ansonsten beheimatet sind. Im Dazwischen-dieser-Orte, im Inter der Disziplinarität, fallen Kommunikationsprobleme an, über die wir reden könnten, wenn wir uns darauf verständigen würden, was denn eigentlich unter Kommunikation zu verstehen sei. Das Problem verschärft sich, wenn (wie in diesem Fall) von einer Residenz aus gesprochen wird, die zumindest bezweifelt, dass es bei Kommunikation um Verständigung gehe, schon gar nicht um die Verständigung von so etwas wie kommunizierenden Subjekten.[1] Die soziologische Systemtheorie der Bielefelder Schule, der ich manchmal zugerechnet werde, manchmal aber auch nicht, ist jedenfalls eine Theorie, die sich quer stellt zu geläufigen Einschätzungen, worum es sich bei Kommunikation eigentlich handle. Es ist vollkommen klar, dass diese Querstellerei und diese Widerborstigkeit ein hohes Mass an Abstraktion voraussetzen, aber das hat den Vorteil, dass sich störender (disziplingebundener) Sinnballast vermeiden lässt.[2] Denn Abstraktion heisst ja eigentlich: Abzug. Und so fasse ich meinen Beitrag als einen Abzugsbeitrag aus. Am Schluss wird fast nichts übrig bleiben, aber dieses Fast könnte die Form von Kommunikation bezeichnen, über die wir dann im Dazwischen unserer Residenzen schliesslich doch reden, wenn auch nicht, wie zu zeigen sein wird, kommunizieren werden.
I Der erste entscheidende Aspekt des Kommunikationsbegriffes, über den wir hier aus dieser besonderen Perspektive verhandeln, ist, dass er bewusstseinsfrei gearbeitet ist.[3] Kommunikation ist bewusstlos, heisst das, und die Schlüsselbegründung dafür ist das Intransparenztheorem. Es besagt im Kern, dass das Bewusstsein sich selbst nie verlässt. Es ist ein absoluter Insider, so sehr, dass man es auch dann nicht findet, wenn man Gehirne aufschneidet.[4] Es ist so in sich eingeschlossen, dass es nicht einmal seinen eigenen Rand (seine Grenze) erreichen kann, denn mit jeder Operation, die dies versucht, wird das Bewusstsein fortgesetzt, es stösst nicht irgendwo an. Die Konsequenz ist, dass kein Bewusstsein mit einem anderen einen Direktkontakt unterhalten kann, auch nicht in den Fällen, in denen poetisch gesonnene und/oder verliebte Leute von Verschmelzungen reden.[5] Ausgetauscht werden aber ganz einfach Körperflüssigkeiten, jedes daran beteiligte Bewusstsein bleibt gleichwohl in sich, eine Monade von einzigartiger Einsamkeit.
Wir entnehmen dieser Überlegung statt der darüber möglichen Trauer nur, dass der Prozess der Kommunikation logisch nicht auf Bewusstseinsteile zugreifen kann. Gedanken werden gerade nicht ausgetauscht.[6] Wenn ich mir die Welt der Kommunikation als eine Art Monitor vorstelle, dann würde ich auf ihm nur Körper, Zeichen, Signale, bewegtes Material sehen, niemals aber ein Stück Bewusstsein. Die Konsequenz ist, dass wir sagen können (wenn wir es nur dächten, vernähme niemand etwas), dass das, was wir Kommunikation zu nennen entschlossen sind, nur dieses Material (dieses Aussen des Bewusstseins) zur Verfügung hat, um sich zu organisieren.[7]
Das ist schon deshalb wichtig, weil daraus erhellt, dass Bewusstsein und Kommunikation sich wechselseitig extern sind. Denn das Bewusstsein kann nicht kommunizieren, es kann schliesslich nicht laut werden, und die Kommunikation kann kein Bewusstsein prozessieren, sondern muss sich einschreiben in irgendein nicht bewusstes Material. Übrigens kann Luhmann schon deswegen sagen, dass soziale (kommunikativ konstituierte) Systeme bewusstseinsleer oder menschenfrei sind. Sie benötigen offenbar Bewusstsein in ihrer Umwelt, aber sie haben keines in sich, so wenig wie im Bewusstsein Sozialsysteme sind. Dies ist, wie viele von Ihnen wissen, das Luhmannsche Skandalon, das kopernikanische Ärgernis, das viele zumindest innerhalb der Soziologie noch lange nicht verwunden haben, aber wohl verwinden werden müssen.
II Wir haben aber bis jetzt Kommunikation nur ex negativo bestimmt. Wir wissen, was sie keinesfalls sein kann, aber wir haben deswegen noch keine Idee, was denn die Kehrseite dieser Negation ist. Der Vorschlag Luhmanns ist es, Kommunikation als die Einheit zu bestimmen, die drei Selektionen synthetisiert: die Wahl einer Information, die Wahl eines Verhaltens, das diese Information publik macht, schliesslich die Wahl eines aus der Differenz von Information und Mitteilung ermittelten Anschlussverhaltens, genannt: Verstehen.[8] Aufs einfachste verdeutlicht: Jemand sagt etwas auf eine bestimmte Weise, und jemand anderer schliesst an dieses Sagen durch eine Anschlusshandlung an, die beobachtbar ist als entweder mehr an diesem Etwas oder mehr an dieser bestimmten Weise orientiert.
Die Frage ist dann, wer wählt denn den Unterschied aus, der eine Unterscheidung im System macht (Information)? Wer wählt die Form, in der die Information exponiert wird (die Mitteilung)? Und wer wählt jenes Anschlussverhalten aus, das Mitteilung und Information separiert und aufeinander bezieht (Verstehen)?
Kämen für diese Selektionen Bewusstseine in Frage, lägen die Dinge einfach. Dann hätte man Leute, die auf Grund interner Informationsverarbeitungsprozesse einander Äusserungsbälle zuwerfen oder sich Pakete mit eingepackten Informationen zuschicken. Die soziale Welt wäre eine Art postalischer Gemeinschaft, und da diese Gemeinschaft von Leuten betrieben würde, verbliebe man in Alteuropa: Etwas ist auf dem Grund der Kommunikation, dominiert sie, und das sind die Subjekte, die über die Welt verhandeln und dabei die Kunst des Gedankenaustausches pflegen.
Nur: Wir haben dezidiert ausgeschlossen, dass Kommunikation so etwas wie Gedanken, Vorstellungen, Intentionen, Wahrnehmungen, kurz: Psychisches transferieren oder auch nur irgendwie beinhalten könnte. Kommunikation hat keine gedankenvollen Subjekte als Basis. Deswegen verbleibt nur das Material, in das sie sich einschreibt, der Lärm der Körper, die Zeichen, die Bilder, die Geräusche, die sich kommunikationsförmig ordnen lassen, das heisst: die irgendwie in die Form einer Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen einrangiert werden können.
Dazu ist zunächst Zeit erforderlich, Zeit allerdings nicht als etwas sozusagen ontologisch Vorgängiges, als Zeit an sich, sondern Zeit, wie sie für Systeme entsteht, die unterscheiden können, also für solche Systeme wie Bewusstseine oder Sozialsysteme. Die These ist, dass diese Systemtypen ereignisbasierte Systeme bezeichnen, die sich aus Ereignissen reproduzieren, deren Besonderheit darin besteht, dass sie an den Zeitstellen, an denen sie auftauchen und verschwinden, keine eigene Identität aufbauen können. Von der Form her sind diese Ereignisse (ob wir nun an Gedanken, Vorstellungen, Wahrnehmungen etc. denken oder an Kommunikationen) Beobachtungen.
Damit es möglich wird, derart übergreifend (abstrakt) zu formulieren, muss dieser Beobachtungsbegriff entsprechend stark von psychischen Konnotationen befreit werden. In Anschluss an den Formenkalkül von George Spencer-Brown[9] fasst Luhmann das Phänomen Beobachtung auf als einen speziellen Unterscheidungsgebrauch, der auf Bezeichnung der einen oder anderen Seite der Unterscheidung hin ausgelegt ist.[10] Es dreht sich also nicht nur um eine bestimmte Weise, bewusste Aufmerksamkeit zu dirigieren (das wäre Referieren), sondern darum, dass mit einer Bezeichnung (zum Beispiel Obst) zugleich ein Unterscheidungsrahmen lanciert ist (Obst/Gemüse oder Obst/Fleisch oder Obst/Krankheit etc.), in dem die Bezeichnung ihren spezifischen Sinn gewinnt, oder wie man auch sagen könnte, ein anschlussfähiges Format.
Ein so zugeschnittener Begriff von Beobachtung lässt sich einerseits auf Bewusstsein und Sozialsysteme (und vielleicht auch auf in Zukunft vorfindbare Unterscheidungsverwender wie intelligente Computer) beziehen; andererseits wird mit ihm sofort deutlich, dass jede Unterscheidungsverwendung (jeder Gedanke, jeder Satz, sei er geschrieben oder gesprochen) im Moment ihres Einsatzes sich nicht selbst noch einmal unterscheiden kann. Beobachtung ist fundamental und in jedem Augenblick blind. Sie sieht etwas und in keiner Aktualität sich selbst – es sei denn wieder: als etwas.[11]
Wenn man die Wahrnehmungsmetapher Blindheit auflöst, so ergibt sich, dass keine Beobachtung an ihrer Zeitstelle logisch identisch ist. Es existiert kein angebbares Verfahren, mit dem sie sich selbst so beobachten könnte, dass sie zugleich ihre eigene Unterscheidung-im-Einsatz registrieren würde. Sie ist (und darin liegen wir im Duktus auch anderer bedeutender Theorien, zum Beispiel in dem Freuds oder Derridas[12]) in dieser Hinsicht auf den Nachtrag angewiesen, auf die Beobachtung/Beschreibung durch ein nächstes Ereignis, das sich nicht selbst festhalten kann und eben deshalb wiederum auf ein weiteres Ereignis angewiesen ist, das ihm via Differenz Identität (und sehr befristet) zuweisen kann.
Man könnte hier aus Verdeutlichungsgründen die Naturzeit von einer Sinnzeit unterscheiden.[13] Die Naturzeit (die eines Baumes, meines Körpers, eines Vulkans, einer Meereswelle etc.) ist nicht über Nachträge definiert, wohingegen die Zeit von sinnprozessierenden Systemen in gewisser Weise retroaktiv ist, die Zeit, wie Derrida sagen würde, der différance. Sie kommt als Festlegung eines Schon-passierten-Ereignisses zustande, aber als eine Festlegung, die an keiner aktuellen Zeitstelle festgelegt ist, sondern nur im modus des post festum entsteht – und dies immerdar, wie es in Kirchenliedern heissen würde.
Diese Abstraktion des Beobachtungsbegriffes erlaubt es, diese besondere Zeitlichkeit auch auf Kommunikation zu beziehen, die sich auf Kommunikation bezieht, die sich auf Kommunikation bezieht. Denn Kommunikationen sind nichts weiter als Beobachtungen.
III Wenn Kommunikationen Beobachtungen sind, dann müssen sie durch Bezeichnungsleistungen Unterscheidungen inszenieren und dabei jene Zeit realisieren, die wir eben skizziert haben. Diese Unterscheidungen habe ich weiter oben schon genannt: Kommunikation unterscheidet Mitteilung und Information an vorangegangenen Äusserungen, die sie genau durch diese Unterscheidung versteht. Und dieses Verstehen wird durch eine weitere Äusserung im Blick auf die Unterscheidung von Information und Mitteilung erneut unterschieden, also verstanden. Der genaue Ausdruck dafür lautet: Kommunikation versteht, indem sie bei jeder Äusserung, auf die zugreift (die sie durch dieses Zugreifen als in Frage kommende Äusserung entwirft), durch eben diesen Zugriff Selbst- und Fremdreferenz (Mitteilung und Information) unterscheidet. In pointierte Formulierung: Das soziale Verstehen ist der Anschluss selber.
Die Selbstreferenz (Mitteilung) ist unverzichtbar, weil in jeder Kommunikation (wie informativ sie auch gerade gehalten sein mag) zumindest jemand konstruiert werden muss[14], der mitteilt, und ebenso klar ist, daß in jeder Kommunikation (wie emphatisch sie auch erscheint) zumindest irgendetwas als Information behandelt werden muss, die neu ist (oder der es gelingt, sich geschickt als neu zu tarnen).[15] Und nur dann, wenn dieser Unterscheidung durch eine weitere Operation zugemutet wird, genau dies gewesen zu sein (die Mitteilung einer Information), kommt Kommunikation zustande. Für diese weitere Operation (soziales Verstehen) gilt, dass sie selbst wieder von einer weiteren Operation mit der Unterscheidung von Mitteilung und Information überzogen wird.
Wenn wir noch einmal die Monitormetapher bemühen: Auf dem Schirm der Sozialität erscheint nur ein Durchsatz von Äusserungen, die als Äusserungen zustandekommen dadurch, dass in ihnen oder vielleicht besser: in ihrem Verschaltungshintergrund (unbeobachtbar für jedes Bewusstsein) jene retroaktive Zeit gleichsam ventiliert, die die Synthese (Syndosis) der Kommunikation ermöglicht. Das klingt so schrecklich und ist so abstrakt, dass man sich fragen kann, wie es dem Bewusstsein möglich ist zu folgen.
IV Luhmanns These ist, dass dies möglich ist, weil Kommunikation (die in ihrer Syntheseleistung unbeobachtbar ist, gleichsam hinter der différance verschwindet) sich extrem vereinfacht und dann in dieser Simplifikation beobachtbar wird.[16] Diese Vereinfachung ist zunächst eine Externalisierung, eine Ent-Äusserung. Wie das Bewusstsein die ihm durch das neurophysiologische System zugespielten Daten nutzt, um intern (!) eine externe Welt aufzubauen, wobei der Prozess dieser Transformation für eben dieses Bewusstsein völlig unzugänglich wird, so erzeugt Kommunikation ihr eigenes Aussen, diesen Vorhang, hinter dem sie sich abspielt, als Äusserung-Jemandes.
Man könnte auch sagen, sie rechnet sich in Mitteilungshandeln um: Jemand muss etwas gesagt, geschrieben, vorgeführt haben. Der kompakte Lärm der Körper und der Zeichen wird interpunktiert oder digitalisiert, in Sequenzen von Äusserungen umgearbeitet, die sich der Wahrnehmung der bewussten Systeme anbequemen. Dabei entsteht ein Nacheinander und ein Abwechseln (turn taking), dem kein Bewusstsein ansieht, dass es die kunstvolle Zerlegung kompakter Weltverhältnisse darstellt. Jede Interaktion (um nur ein Beispiel herauszugreifen) ist ein so dichtes Amalgam von parallel ablaufenden, in der Aktualität nicht zu trennenden Körperbewegungen, Stimmerzeugnissen, verborgenen Signalen, dass die Ordnung, die sich daraus bildet (dieses Spiel als Interaktion kenntlich macht) hoch unwahrscheinlich ist und sich doch dem psychischen Beobachter als das Natürlichste der Welt aufdrängt.[17]
Sieht man mit, dass jede interaktive Aktualität (aber wir könnten auch von Filmen, Video-Clips, Büchern, Internet-Surfing reden) unterfüttert ist mit Strukturen (Schemata, frames etc.), die selbst nicht thematisch werden, aber die Thematizität der Kommunikation ermöglichen, versteht man sehr deutlich, warum die Hermeneutik (gleich, welcher Provenienz), die Konversationsanalyse, eigentlich alle auf Kommunikation bezogenen Wissenschaften so extrem viel Unwahrscheinlichkeit in die Beobachtung von Kommunikation hineinpumpen müssen. Allein das Protokoll einer Interaktion ist eine so komplizierte Angelegenheit, dass spezielle Verschriftungsregeln, die ihrerseits selektiv sind, erfunden werden mussten.
Das Bewusstsein registriert Leute, die sich unterhalten, und es registriert nicht, dass diese Unterhaltung unterhalten wird von Strukturen und Prozessen, die diese Wahrnehmung (diese Leute reden miteinander, jene Leute lesen etc.) nachgerade grotesk einfach wirken lassen – weswegen sie wahrscheinlich auch tatsächlich und wie man manchmal sagt alltäglich funktioniert. Kommunikation buchstabiert sich in Äusserungen und deren Autoren aus. Sie kopiert sich einen Schatten aus Fleisch, Gebärden, Mimik, Zeichen, den sie wie ein Bild auswirft, an dem sich das Bewusstsein orientiert – bis hin zur Selbstvergessenheit.
Diese Überlegung lässt sich trotz ihrer Sperrigkeit noch einmal plausibel machen, wenn man sich vor Augen hält, dass bewusste Beobachter immer nur bewusst beobachten. Diese Tautologie bekräftigt, dass die bewusste Beobachtung immer eine méconnaissance ist, eine systematische Verkennung. Sie sieht das Andere ihrer selbst in der Form des eigenen Materials.[18] Und damit ist nur wieder erneut ausgedrückt, dass das Bewusstsein keinen originären Zugang zu bewusstseinsfreien Prozessen wie Kommunikation hat. Dasselbe gilt umgekehrt: Die Kommunikation hat (wir haben es oben diskutiert) keinen originären Zugang zu psychischen Prozessen. Sie nimmt dergleichen nicht wahr, weil sie evidenterweise keine Wahrnehmungsorgane, sondern nur die Chance hat, auf die durch Wahrnehmung organisierte relevante Umwelt, insoweit sie als Konvolut von Äusserungen beschreibbar ist, zuzugreifen.
Das wäre eine vielleicht belanglose Einsicht, wenn mit ihr sich nicht zugleich Fragen stellen liessen, die darauf ausgehen, den Zusammenhang soziokultureller Evolution mit den je (zugelassenen/ausgeschlossenen) Äusserungsformaten zu prüfen. Wenn schliesslich Äusserungen und Autoren von Äusserungen kommunikativ ermittelt werden, dann dürfte diese Ermittlung mit den Strukturen und Prozessen sozialer Systeme kovariieren.
Mit wenigen und noch kontingenten Beispielen läßt sich die so mögliche Forschungsrichtung skizzieren bzw. lassen sich schon übliche Forschungsinteressen diesen Überlegungen zuordnen. So wird man davon ausgehen können, dass Frauen und Kinder nicht immer als Äusserungsproduzenten begriffen wurden, und wenn, dann jedenfalls deutlich verschieden von der Weise, wie die Äusserungen beispielsweise männlicher Vollbürger zugerechnet wurden. In archaischen Sozialsystemen konnten Eingeweide von Tieren, verdorrte Bäume oder Wolkenformationen als Äusserungen überzeugen. Das Mittelalter exkommunizierte grosse Teile seiner Bevölkerung.[19] Kommunikation am Hofe des Sonnenkönigs wird nicht nur ein prekäres Äusserungsformat erzeugt haben, sondern auch maximale Ausschlüsse von Leuten, die nicht äusserungsberechtigt waren. Kunstwerke werden lange Zeit (vor der Ausdifferenzierung des Kunstsystems) gar nicht als Mitteilungen von Informationen aufgefasst worden sein, so dass ihnen post festum anonyme Meister zugeteilt wurden, die dann doch als Autoren des autorenlosen Vorkommens von Altären, Madonnen, Leuchtern etc. fungieren konnten. Die Romantik etwa war in der Lage, das, was typischerweise nicht als Äusserung galt und gilt, als Schrift zu deuten, die Schrift der Vögelzüge, des Strauchgezweigs, der Chladnischen Klangfiguren.[20] Der modernen Literaturwissenschaft, so scheint es, ist der Autor endgültig abhanden gekommen. In den eher populären Sendungen des Fernsehens wie Big Brother wird dagegen zur Kommunikation zugelassen, wer sonst aus öffentlicher Kommunikation (vielleicht mit gutem Grund) ausgeschlossen war. Überhaupt könnte man sagen, dass gesellschaftlich relevante Äusserungen nur noch via Massenmedien möglich sind. Ansonsten herrscht ein gleichsam universales Schwatzen und Raunen, eine Art von unentwegt anfallender Mikrodiversität, aus der durch massenmediale Aufnahme relativ stabile, breitenwirksame Äusserungen herauspräpariert werden – herauspräpariert, das soll bedeuten, dass Kommunikation hier schon sich als Medium ausbeutet, also den massenhaften Anfall dessen, was schon als Äusserung begriffen wird, noch einmal in die Form spezieller Äusserungen bringt.
V Aber mein Interesse hier ist es, auf Kommunikation selbst zu achten, wiewohl dies nur auf Umwegen (nur über deren Selbstsimplifikation) möglich ist. Nach gutem und altem Brauch möchte ich zumindest eine offene (ungeklärte) Frage zur Diskussion stellen, die sich aus der logischen Behandlung der Zeit von Kommunikation ergibt. Es geht um das Problem der Elementarität von Kommunikation. Typisch wird Kommunikation in den hier zugrunde liegenden Theoriezusammenhängen als elementare Einheit sozialer Systeme thematisiert. Dabei könnte man den Eindruck gewinnen, es gehe um etwas Kernhaftes, Isolierbares, eben um Elemente, die dann aneinander hängbar und miteinander verkettbar sind. Mir scheint, dass auch der Begriff der Autopoiesis als Produktion von Elementen aus Elementen derselben Art in einem Netzwerk der Elemente derselben Art häufig so missverstanden wird: als Katenation von isolierbaren Einheiten.
Die Zeitlogik, die wir behandelt haben, verbietet aber diese Annahme. Man sieht das in einem ersten Schritt, wenn man darauf achtet, dass autopoietische Prozesse für sich selbst keinen beobachtbaren Anfang haben und auch kein beobachtbares Ende. Jedes erste Ereignis (jede erste Kommunikation) ist nur dann ein Ereignis, wenn es durch ein Folgereignis beobachtet wird, das dann eigentlich das erste Ereignis wäre, wenn es nicht seinerseits angewiesen wäre auf ein weiteres Ereignis, dass es als das zweite eines ersten Ereignisses beschreibt, und so fort. Das System hat systematisch keinen Kontakt mit dem Original eines wie immer unvordenklich angesetzten Ereignisses. Und das letzte Ereignis wäre nur dann das letzte Ereignis, wenn es durch ein weiteres Ereignis als das letzte identifiziert würde, das aber wiederum das letzte nur dann wäre, wenn ein Ereignis folgen würde, das das dann vorletzte für das letzte Ereignis hielte. Man stirbt, bedeutet das tröstlicherweise auch, in einem genauen Sinne des Wortes durch und durch unverhofft und unbemerkt – ausser für einen externen Beobachter, der sozial relativ kontingente Kriterien einsetzt, um Geräte abzuschalten oder gar nicht erst weiter einzusetzen.
Für sich anfangslose und endefreie Systeme haben, auch dies folgt daraus, keine zählbaren Einheiten, keine ersten, dritten, hundertsten Elemente. Auf keines seiner Ereignisse lässt sich zeigen als auf eine EINS, auf eine DREI oder auf eine HUNDERT. Oder noch radikaler: Auf keines seiner Ereignisse lässt sich zeigen. Sinnsysteme haben keine, wie man dann formulieren müsste, empirischen Ereignisse. Die Empirie greift (und das nur mit extremer Mühe und eigenen Simplifikationsleistungen) auf Äusserungen zu, die selbst grenzunscharf sind.
Diese Überlegung ist sehr fundamental. Sie besagt, dass die Theorie der Kommunikation eine Zeit ansetzt, die die Theorie selbst zwingt, auszuschliessen, dass die Ereignisse, die sie modelliert (Kommunikationen) beobachtbar seien. Sie formuliert in terms der Elementarität Nicht-Elemente, und schon das führt notgedrungen in eine Abkehr von jeglicher Ontologie der Elemente. Wie für die Derridasche différance oder für das Rhizom von Deleuze und Guattari gilt, dass sich im Blick auf solche Elemente oder Prozesse nicht mehr sagen lässt, ob sie sind oder nicht sind. Das to be or not to be Hamlets wird ausgesetzt. Das Schema des Seins versagt. Derrida würde dann wohl von monstruösen Unterscheidungen sprechen, die Buddhisten vielleicht von der Figur des Tetralemmas Gebrauch machen. So oder so, mit Figuren dieses Typs (mit dieser monstruösen Kommunikationstheorie) gerät der milde Konstruktivismus an seine Grenzen, mit ihm dann auch jede zweiwertige Logik, weswegen denn auch Gotthard Günther oder George Spencer-Brown zu Leitfiguren der Auseinandersetzung um das, was sich gerade noch sagen lässt, avancierten.
Man könnte das getrost philosophischer oder theologischer Spekulation überlassen. Dennoch denke ich, dass sich die Soziologie nicht minder mit solchen a-ontologischen, monströsen oder auch nicht-cartesischen Verhältnissen befreunden müßte. Sie hat es mit unausdenkbar komplexen Phänomenen wie etwa der Gesellschaft zu tun, und es lässt sich heute leicht zeigen, dass Analysen, die sich auf Gesellschaft richten, auf das Problem stossen, dass sich die Gesellschaft selbst nur als Imagination (als die Gesellschaft der Gesellschaft) beobachen kann. Es trifft sich, dass es der Physik im Übergang von Newton zu Einstein zu Heisenberg zu Hawking auf ganz ähnliche Probleme reagieren musste und noch reagiert. Am Problem der Kommunikation zeigt sich nur, dass der Übergang zum nicht-cartesischen Denken nun auch die Soziologie erreicht hat, aber dass genau darin die Chance liegt, zwischen den Residenzen, die sich mit Kommunikation beschäftigen, ganz neue und abenteuerliche Analyselagen zu verhandeln.
Ich danke Ihnen.
[1] Ich will nicht verhehlen, dass es für mich eine närrische Annahme ist, zu glauben, dass die Funktion von Kommunikation Verständigung sei. [2] Wir vermeiden jedenfalls zuviel Nähe und zuviel Praxis und entziehen uns damit dem Vorwurf, zu wenig Theorie zu betreiben. Siehe jedenfalls zu dieser Figur und zeitgenössische Einwände gegen Kant und Rousseau Rhia, R., Reale Geschehnisse der Freiheit: zur Kritik der Urteilskraft in Lacanscher Absicht, Wien 1993 (Wo Es War 3), S.39. Für die Kritikfigur des Zuviel an Theorie siehe Philonenko, A., Théorie et praxis dans la pensée morale et politique de Kant et de Fichte, Paris 19883. [3] Vgl. zu einer Fülle von theoretischen Konsequenzen, denen wir uns hier auch weitgehend anschliessen, Luhmann, N., Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984. [4] Einschlägige Experimente hat es gegeben, das Bewusstsein auf der Ebene seiner Materie zu erwischen. Siehe dazu Breidbach, O., Die Materialisierung des Ichs, Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1997. [5] Vgl. dazu Fuchs, P., Liebe, Sex und solche Sachen, Zur Konstruktion moderner Intimsysteme, Konstanz 1999. [6] Selbst dumme Leute, von denen man sagt, dass sie mit Strohballen werfen, wenn sie Gedanken austauschen, tauschen Strohballen und nicht Gedanken aus. [7] Vgl. umfangreicher Fuchs, P., 5. Moderne Kommunikation, Zur Theorie des operativen Displacements, Frankfurt a.M. 1993; zum Gesichtspunkt der Materialität von Kommunikation siehe die Studien in Gumbrecht, H.U./Pfeiffer, K.L. (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988. [8] Vgl. standardmässig das Kapitel über Kommunikation in Luhmann 1984. [9] Spencer-Brown, G., Laws of Form, London 1969, New York 1979, dt. Übersetzung:, Gesetze der Form, Lübeck 1997. [10] Niklas Luhmann hat so massiv seit 1984 vom Beobachtungsbegriff Gebrauch gemacht, dass ich mir hier Einzelnachweise erspare. [11] Ein altes Thema, neu formuliert. Im platonischer Sophistes (237a-e) findet sich: légein = légein tí — Sagen ist Etwas Sagen. Parmenides weist vielleicht als erster auf die Intentionalität des Denkens hin (dóxai — dokoûnta — Annehmen/Angenommenes). Vgl. Thanassas, P., Die erste „zweite Fahrt“, Sein des Seienden und Erscheinen der Welt bei Parmenides, München 1997, S.45f. Vor Brentano und Husserl findet sich der Topos komplex ausgearbeitet bei Hegel. Siehe dazu Kreß, A., Reflexion als Erfahrung, Hegels Phänomenologie der Subjektivität, Würzburg 1996, S.33ff. et passim. [12] Vgl. Fuchs, P., Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie, Die Herrschaft der Verlautbarung und die Erreichbarkeit des Bewußtseins, Frankfurt a.M. 1998. [13] Das ist, wenn man so will, eine rein didaktische Unterscheidung, denn die Naturzeit wird immer von der Sinnzeit her unterschieden, die sich sozusagen ihr eigenes Gegenteil errechnet. Sie tut das, indem sie Indifferenz differentiell denkt. Siehe dazu, dass die Wahl des Wortes Naturzeit (Natur als Indifferenz) nicht beliebig ist, Siehe Schelling, F.W.J., Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, in ders. Schriften von 1799-1801, Darmstadt 1982, S.309. [14] Vgl. dazu Fuchs, P., Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie, in: Soziale Systeme, Jg.3, H1., 1997, S.57-79. [15] Vgl. zu diesem Informationsbegriff Luhmann, N., Organisation und Entscheidung, Opladen 2000, S.56ff. Dass sich Information auch als neu tarnen kann, sieht man schnell, wenn man Interaktionen beim Bäcker, beim Autohändler oder in Gefängnissen beobachtet. [16] Vgl. vor allem das Kommunikationskapitel in Luhmann 1984. [17] Vgl. als neuere Studie Kieserling, A., Kommunikation unter Anwesenden, Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt a.M. 1999. [18] Siehe noch einmal Fuchs 1998. [19] Fuchs, P., Weder Herd noch Heimstatt - Weder Fall noch Nichtfall. Doppelte Differenzierung im Mittelalter und in der Moderne, in: Soziale Systeme, Zeitschrift für soziologische Theorie, H.2, 1997, S.413-437. [20] Vgl. für eine Welt einschlägiger Literatur Oesterle, G., Arabeske, Schrift und Poesie in E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen >>Der goldene Topf<<, in: Behler, E. et al. (Hrsg.), Athenäum, Jahrbuch für Romantik, Jg.1, Paderborn -- Wien -- München -- Zürich 1991, S.69-107. |