Fachzeitschrift Prävention&Prophylaxe 2/01

 

Was „ist“ Prävention?

 

Mit den Begriffen Prävention und Gesundheitsförderung wird eine unübersehbare Menge von Massnahmen bezeichnet, welche die Verhinderung von bestimmten unerwünschten Verhaltensweisen und Zuständen zum Ziel haben.

In diesem Artikel soll versucht werden, mit den Mitteln der Systemtheorie eine kohärentere Begrifflichkeit für den Präventionsbereich zu erarbeiten. Weiter ist es das Ziel, Differenzen und Ähnlichkeiten zu andern Interventionsformen wie der Therapie und der Organisationsberatung aufzuzeigen.

 

Martin Hafen

 

Wirft man einen Blick auf die Geschichte der Prävention, so wird deutlich, dass es seit den 70er-Jahren immer mehr Präventionsangebote gibt und dass sich seit dieser Zeit Organisationen herausbilden, die sich nichts anderem widmen, als der Konzipierung und Durchführung von solchen Angeboten. Erfolgt diese Organisationsbildung mit einer gewissen erwartbaren Regelmässigkeit, so ist es als wahrscheinlich anzusehen, dass sich mit der Zeit eine Profession „Prävention“ etabliert. Diese Professionalisierung kündet sich in der Regel durch Bemühungen auf mehreren Ebenen an: Weiterbildungsgänge, Qualitätssicherung von Angeboten, Forschungsaktivitäten, Theoriebildung. In der Prävention werden zur Zeit in all diesen Bereichen erste (bisweilen noch recht zaghafte) Versuche gemacht.

 

Unklare Begrifflichkeit

 

Die Theoriebildung ist wohl der Aspekt der Professionalisierung von Prävention, der am wenigsten entwickelt ist. Das zeigt sich zum einen an den fehlenden Publikationen, zum andern aber auch an der unklaren Begrifflichkeit im Präventionsbereich. Zwar kann man eine Linie „Gesundheitsförderung, Primär-, Sekundär-, Tertiärprävention“ ausmachen, doch diese Begriffe werden in der praxisorientierten Literatur mit einer Beliebigkeit verwendet, die vermuten lässt, dass es ihnen an theoretisch fundierter Trennschärfe fehlt.

Wenn man eine Theorie als systematisierte Anleitung zur Beschreibung von Phänomenen versteht, so wird deutlich, dass der Begrifflichkeit auch bei der Erarbeitung einer Präventionstheorie eine grosse Bedeutung zukommt. Eine exakte Beschreibung präventiver Aktivitäten ist nur mit Begriffen möglich, die sich einerseits deutlich voneinander unterscheiden und die andererseits in einer logisch nachvollziehbaren Beziehung zueinander stehen.

 

Mit neuer Begrifflichkeit zu einer kohärenten Beschreibung der Prävention

 

Die Systemtheorie scheint sich auf Grund ihrer immensen Eigenkomplexität und ihrer erfolgreichen Verwendung in verwandten Bereichen wie der therapeutischen Beratung oder Organisationsberatung durchaus als Grundlage für eine Präventionstheorie zu eignen. Daher soll hier versucht werden, auf der Basis dieses Ansatzes eine neue Begrifflichkeit für eine kohärente Beschreibung von Prävention zu erstellen.

Da – zumindest aus der Sicht der Systemtheorie – keine Beobachtung und auch keine beobachtungsanleitende Theorie den Anspruch auf allein gültige Wahrheit erheben kann, ist eine Erarbeitung theoretischer Grundlagen immer nur als Diskussionsbeitrag zu sehen – als Diskussionsbeitrag im bisher arg vernachlässigten Feld der Präventionstheoriebildung.

 

Primär-, Sekundär und Tertiärprävention

 

Stellvertretend für ähnliche Definitionen zur Prävention sei jene des schweizerischen Bundesamtes für Gesundheit aufgeführt:

„Die Primärprävention setzt möglichst früh an und will der Entstehung von Risikoverhalten bzw. Symptomen zuvorkommen. Die Sekundärprävention zielt auf eine möglichst frühe Erfassung von beobachteten Risiken bzw. Symptomen. Tertiärprävention bezieht sich auf die Linderung und Rehabilitation nach erfolgter Krankheit.“

Diese Definitionen vermitteln den Eindruck, dass sich die Präventionsarbeit nach dem Interventionszeitpunkt gliedern liesse. In Bezug auf den Begriff „Tertiärprävention“ kann man sich fragen, ob nicht jede Behandlung oder Therapie von Krankheit auch präventiven Charakter hat. Geht es nicht immer auch darum, das Fortdauern eines Übels zu verhindern oder gar seiner Verschlimmerung vorzubeugen? Auch wenn die Übergänge fliessend sind: Wenn man eine begriffliche Unterscheidung von Prävention und Behandlung anstrebt, dann scheint es unabdingbar, Kriterien zu formulieren, nach denen die Differenz zwischen den beiden Begriffen markiert werden kann. In diesem Fall ist das Kriterium das Problem (etwa: Drogensucht), welches im Falle der Prävention noch nicht besteht und dessen Auftreten verhindert werden soll. Ist das Problem schon vorhanden, entsprechen die Interventionen nicht mehr Prävention sondern Behandlung.

 

Verzicht auf unterscheidungsschwache Unterscheidungen

 

Hinsichtlich des Begriffs „Sekundärprävention“ fällt auf, dass die Funktionen der Früherfassung und der Prävention mit Risikogruppen nur zwei von zahlreichen Aspekten präventiver Arbeit sind. Es ist schlicht nicht nachzuvollziehen, warum diesen spezifischen Aspekten der Präventionsarbeit in der herkömmlichen Klassifizierung mit „Sekundärprävention“ ein eigener Bereich zugemessen wird, während alle andern präventiven Aktivitäten unter dem Begriff der Primärprävention zusammengefasst werden.

Angesichts der mangelnden Trennschärfe wird hier vorgeschlagen, auf die Unterscheidung von Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention zu verzichten, obwohl die Begriffe relativ gebräuchlich sind. Damit wird Platz geschaffen für eine neue Differenzierung des Präventionsbegriffes – eine Differenzierung, die theoretisch begründbar ist.

 

Vermischung von Funktion und Methode

 

Weiterer Klärungsbedarf besteht in Bezug auf das Begriffspaar Prävention/Gesundheitsförderung. Seit der Einführung eines umfassenden Gesundheitsbegriffs durch die Weltgesundheitsorganisation WHO werden immer mehr präventive Massnahmen unter dem Label der Gesundheitsförderung angeboten, obwohl sie sich von „herkömmlicher“ Prävention nicht unterscheiden. Wie ich an anderer Stelle (Hafen, 2001) darzulegen versuchte, gründet diese Vermischung der beiden Begriffe vor allem darauf, dass die Funktion der Prävention (Verhinderung von Unerwünschtem) mit der Methode (Förderung von Ressourcen) gleichgesetzt wird. Was die Methode betrifft, so lässt ein Überblick über die Konzepte von Prävention und Gesundheitsförderung den Schluss zu, dass die Förderung von Ressourcen in beiden Bereichen eine zentrale Position einnimmt. Trotzdem können weder die Prävention noch die Gesundheitsförderung gänzlich auf andere Methoden wie Informationsvermittlung und auch Abschreckung verzichten.

 

Was ist Gesundheit ohne Krankheit?

 

Sucht man die Differenz zwischen den beiden Begriffen auf der Ebene der Funktion, so kann man mit einer unterscheidungstheoretisch begründeten Analyse (vgl. dazu Hafen, 2001) etwa am Beispiel der Suchtprävention feststellen, dass beide Begriffe auf der Basis der Unterscheidung gesund/krank (allenfalls erweitert zu erwünscht/unerwünscht) operieren. Die Prävention betont die Seite der Krankheit, die ihre Massnahmen verhindern sollen; die Gesundheitsförderung konzentriert sich auf die Gesundheit, die sie fördern will. In beiden Fällen ist die andere Seite der Unterscheidung präsent: die Gesundheit kann nicht gefördert werden, ohne Krankheit zu verhindern; die Krankheit kann nicht verhindert werden, ohne die Gesundheit zu fördern.

Für die hier zur Diskussion stehenden Massnahmen soll in der Folge der Begriff „Prävention“ verwendet werden. Diese Entscheidung wird damit begründet, dass „Gesundheit“ ohne den Gegenbegriff „Krankheit“ sehr wenig Unterscheidungswert hat. „Gesundheit“ ohne „Krankheit“ ist wie „links“ ohne „rechts“. Krankheiten oder sozial unerwünschte Verhaltensweisen gibt es viele; mit dem Begriff „Prävention“ können sie konkret bezeichnet werden, und das macht Massnahmen besser planbar.

 

Gesundheitsförderung als Oberbegriff

 

Das heisst nicht, dass der Begriff der Gesundheitsförderung nutzlos wäre; als allgemeines Leitziel sozialer Entwicklung, als generelle Aufforderung zur Übernahme von Verantwortung beim Treffen von Entscheiden auf allen Ebenen eignet sich der Begriff durchaus.

In diesem Sinn wird hier vorgeschlagen, so zu argumentieren wie die deutsche Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZGA, 2000: 36), welche die „Prävention als Bestandteil der Gesundheitsförderung“ sieht. In diesem Sinn sollen hier unter „Prävention“ lediglich Massnahmen verstanden werden, welche zum Ziel haben, bestimmte unerwünschte Verhaltensweisen oder Zustände, die zu solchen Verhaltensweisen führen (wie Sucht), bei unbestimmten Personen zu verhindern. Eine Herabsetzung des Grenzwertes für Strahlungen von Natel-Antennen und seine konsequente Durchsetzung, eine kinderfreundliche Stadtplanung, die Unterstützung von Familien mit kleinen Kindern, aber auch alle präventiven Aktivitäten – dies alles sind Massnahmen, die unter dem Oberbegriff der Gesundheitsförderung zusammengefasst werden können.

 

Die Differenz von Prävention zu andern Disziplinen

 

Bis dahin wurde argumentiert, dass es Sinn macht, die gebräuchliche Begriffskette „Gesundheitsförderung-Primärprävention-Sekundärprävention-Tertiärprävention“ mangels Unterscheidungskraft aufzuheben und Prävention als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Gesundheitsförderung zu verstehen.

Diese Klärung der Begrifflichkeit rund um den Begriff „Prävention“ erlaubt nun eine inhaltliche Abgrenzung zu den nahe stehenden Disziplinen „Behandlung“ (stationär und ambulant) und „Schadensverminderung“. Folgende Definitionen können als Diskussionsgrundlage dienen:

  • Prävention versucht, zukünftige Probleme bei unbestimmten Personen zu verhindern.

  • Früherfassung versucht, Anzeichen für zukünftige Probleme bei bestimmten Personen zu erkennen und die geeigneten Massnahmen zur Behandlung dieser Anzeichen in die Wege zu leiten.

  • Behandlung versucht, bestehende Probleme bei bestimmten Personen zu beheben.

  • Schadensverminderung versucht, Folgeprobleme von bestehenden Problemen bei bestimmten Personen zu verhindern.

Der Präventionsaspekt „Früherfassung“ markiert in diesem Sinn eine Übergangszone, ein Bindeglied zwischen Prävention und Behandlung: Die durch die präventiven Massnahmen zu verhindernden Probleme sind zwar noch nicht oder nur ansatzweise aufgetreten, doch werden durch die Früherfassung andere Probleme bezeichnet – Probleme, die auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit der Probleme hinweisen, die mit der Prävention verhindert werden sollen. Diese Probleme (etwa: auffallende Unkonzentriertheit oder gehäuft auftretende massive verbale Aggression eines bestimmten Schülers) werden dann in der Regel durch andere Einrichtungen wie eine Familienberatungsstelle behandelt.

 

Die Ebenen der Prävention

 

Da Prävention ein sehr komplexes Unterfangen ist, drängt es sich auf, nach der Dekonstruktion der herkömmlichen Begrifflichkeit eine neue Differenzierung des Präventionsbegriffs zu versuchen. Dies soll anhand verschiedener Ebenen geschehen, nach denen präventive Massnahmen klassifiziert werden können. Dabei stehen die einzelnen Ebenen nicht in Abgrenzung, sondern in Ergänzung zueinander: Eine Medienkampagne ist eine personen-orientierte Intervention; sie verwendet ein Verbreitungsmedium (etwa: Plakate, ergänzt durch Presseberichte); sie richtet sich an bestimmte Zielgruppen, und sie versucht zum Beispiel den Informationsstand der anvisierten Individuen zu verbessern. Es können folgende Ebene unterschieden werden:

  • Die Interventionsebene: es macht einen Unterschied, ob sich präventive Kommunikation an Einzelpersonen richtet oder an soziale Systeme wie Familien bzw. Organisationen (Schule, Firmen etc.). In diesem Sinn soll zwischen personen-orientierter und sozialsystem-orientierter Prävention unterschieden werden.

  • Die Ebene der Zielgruppen: Präventive Massnahmen  richten sich nicht immer (wie bei Medienkampagnen) an die ganze Bevölkerung, sondern an bestimmte Zielgruppen, die nach Risikofaktoren. Altersklassen oder anderen sozio-demographischen Merkmale (z.B. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit) bestimmt werden.

  • Die Ebene der Methoden: wie bereits erwähnt stehen der Prävention unterschiedliche Methoden wie z.B. Informationsvermittlung, Ressourcenförderung oder Vernetzung zur Verfügung.

  • Die Ebene der Medien: Schlussendlich bedient sich die Prävention unterschiedlicher Medien. Neben Sprache, Schrift und Bild ist dabei vor allem an die Massenmedien zu denken und an MediatorInnen wie SportleiterInnen oder Peer-Leaders.

Auf jeder dieser Ebenen müssen bei der präventiven Arbeit Besonderheiten beachtet werden, die auf den andern Ebenen nicht oder in anderer Form auftreten. Dazu kommt, dass die Präventionswirkung auf einzelnen Ebenen unterschiedlich gut erforscht ist. Das heisst, dass der dringend notwendige Austausch zwischen Theorie und Empirie nicht immer in gleichem Ausmass möglich ist.

 

Prävention als spezielle Form von Beratung

 

Mit einer theoriegeleiteten Klärung der Begrifflichkeit ist noch nichts darüber gesagt, was Prävention denn eigentlich „ist“. Die historische Entwicklung legt nahe, die Prävention als Subsystem der Suchthilfe und damit der Sozialen Arbeit zu verstehen – also als System, welches die Funktion hat zu verhindern, dass Menschen zu Fällen für Sozialhilfe werden. Gegen diese Klassifizierung spricht, dass Prävention auch in andern Funktionssystemen angewendet wird – insbesondere in der Medizin und im Recht.

Aus diesem Grund wird hier vorgeschlagen, dass die Prävention nicht in erster Linie als Subsystem der Sucht- oder der Sozialarbeit verstanden wird, sondern genereller als besondere Ausformung des Kommunikationsschemas der Beratung. Präventive Beratung verfolgt in diesem Sinn unterschiedliche Zielsetzungen – je nachdem wo sie zur Anwendung kommt: Im Medizinsystem versucht sie, Krankheit zu verhindern, im Rechtssystem Unrecht und im System der Sozialen Arbeit den Ausschluss von Menschen aus andern Systemen wie der Familie, der Arbeit etc. Präventive Massnahmen umfassen demnach – und das schliesst an die obigen Ausführungen an – keine politischen Entscheidungen, nicht den Erlass von neuen Gesetzen und auch nicht die Applikation von Impfstoffen, sondern immer nur Beratungskommunikationen, die sich an Einzelpersonen oder soziale Systeme wie Familien oder Organisationen richten. Präventionsfachleute sind demnach – ähnlich wie TherapeutInnen oder OrganisationsberaterInnen – Beratungsfachleute, mit dem Unterschied, dass sie nicht in Bezug auf bestehende Probleme beraten, sondern auf solche, die es zu verhindern gilt.

 

Die Schwierigkeit kausaler Intervention

 

Bevor auf die Besonderheiten von präventiver im Vergleich zu behandelnder Beratung eingegangen wird, sollen einige Bemerkungen zum Beratungsbegriff gemacht werden. Jede Beratung entspricht einem Interventionsversuch. Wie früher (Hafen, 2000) ausgeführt, versteht die Systemtheorie sowohl Bewusstseinsysteme als auch soziale Systeme als operativ geschlossen. Diese Systeme sind demnach wohl auf Informationen aus ihrer Umwelt angewiesen; welche Informationen sie aber aufnehmen und wie sie sie verarbeiten, das hängt von ihren eigenen Strukturen ab und ist „von aussen“ nicht kausal zu beeinflussen.

„Beratungserfolg“ kann daher aus systemtheoretischer Sicht immer nur als Konstruktion der Beteiligten verstanden werden und nicht als Ursache-Wirkungs-Prozess. Diese Einsicht bedingt, dass zumindest systemische Beratung nicht von einer Beratungskonstellation ausgehen kann, welche die Beraterin als allwissende Expertin und den Beratenen als hilflos versteht. Systemische Beratung setzt viel mehr voraus, dass der Beratene der eigentliche Experte seiner selbst ist, wobei es zu beachten gilt, dass das Bewusstsein (die Gedanken) des Beratenen einer Beobachtungsebene entspricht, welche laufend neu aktualisiert wird (vgl. dazu Hafen, 2000). Die Beratung versucht nach diesem Verständnis in der Regel vor allem, dem Beratenen andere Unterscheidungen zur Selbstbeobachtung anzubieten und sie akzeptiert, dass das, was durch ihn und seine Umwelt als Problem definiert wird, (etwa Sucht) systemintern der zu diesem Zeitpunkt bestmöglichen Lösung gleichkommt. Diese Lösung gilt es nun durch eine gleichwertige (in der Sprache der Theorie: funktional aequivalente) Lösung zu ersetzen – eine Lösung, die nicht so viele negative Nebenwirkungen mit sich bringt.

 

Das Beratungssystem

 

Die Annahme operativer Geschlossenheit von psychischen und sozialen Systemen bedingt weiter, dass auf die Vorstellung verzichtet wird, eine Beraterin spreche (als Subjekt) direkt zu einer beratenen Person (also dem Objekt). Vielmehr bildet sich ein eigenständiges Kommunikationssystem – ein Beratungssystem, welches für die „beteiligten“ Personen eine ganz besondere Umwelt bildet. Obwohl dieses Beratungssystem untrennbar mit den psychischen Systemen dieser Personen verbunden (in der Theoriesprache: strukturell gekoppelt) ist, entwickelt es eigene Systemstrukturen und damit eine Abfolge von Kommunikationen, die nicht einfach der Summe der Beiträge aus seiner Umwelt entspricht, sondern eine gewisse Eigendynamik entwickelt. Vereinfacht formuliert: Man kann hören, was gesprochen wird, doch in welchem Zusammenhang diese Sätze mit den Gedanken der beteiligten Personen stehen und wie sie von den andern verstanden werden, kann nur vermutet werden.

 

Prävention: Beratung in Bezug auf zukünftige Probleme

 

Prävention hat also mit andern Formen der Beratung wie der therapeutischen oder der Organisationsberatung einiges gemeinsam. Nun soll der Blick auf die wichtigsten Unterschiede zwischen der Prävention und diesen Beratungsformen gelenkt werden. Ein wichtiger Unterschied liegt auf der zeitlichen Ebene: Während Therapie und Organisationsberatung dadurch charakterisiert sind, dass sie ein bestehendes Problem oder eine bestehende Krise bezeichnen, erfolgt die Problembezeichnung bei der Prävention nicht in erster Linie in Richtung Vergangenheit, sondern in Richtung Zukunft. Das hat unterschiedliche Auswirkungen auf die Beratung: Während sich die Beratungssysteme in Therapie und Organisationsberatung auf Probleme beziehen können, die durch die PatientInnen respektive die Rat suchenden Organisationen formuliert werden, so sind Präventionssysteme an Problemdefinitionen und damit auch an Problemgeschichten gebunden, die nicht in erster Linie durch die Beratenen, sondern durch die Gesellschaft (via Massenmedien) konstruiert werden. Präventive Beratung arbeitet daher unter gänzlich anderen Voraussetzung als andere Beratungsformen: Wer zu einer Therapeutin geht oder eine Organisationsberatung in Anspruch nimmt, ist in der Regel daran interessiert, dass ein bestehendes Problem gelöst oder zumindest gelindert wird. Die Prävention muss damit umgehen können, dass es weit gehend unbestimmt ist, wie die Problemsicht der zu Beratenden aussieht.

 

Die Auflösung einer Paradoxie ...

 

Diese Besonderheiten auf der zeitlichen Ebene wirken sich auch auf die Sozialdimension aus. Weil bei den beratenen Individuen und Organisationen keine eigentliche Problemgeschichte besteht, auf welche sich die präventive Beratung beziehen kann, nehmen diese Personen und Organisationen im Präventionsberatungssystem eine paradoxe Form an: Die Beratung bezieht sich auf ein bestimmtes Problem (z.B. Drogenkonsum); sie richtet sich aber an AdressatInnen, die dieses Problem noch gar nicht haben.

Paradoxien sind – zumindest aus der Sicht der Systemtheorie (vgl. dazu etwa Baraldi et. al., 1998: 133) – ein Problem für einen Beobachter eines Systems, nicht aber unbedingt für die Operationen des Systems selbst.

 

... durch die Konstruktion von behandelbaren Problemen

 

Im Fall der Prävention erfolgt die Auflösung der Paradoxie „Behandlung eines noch nicht bestehenden Problems“ durch die Methoden des Beratungssystems. Diese Methoden heissen bei der Suchtprävention für Personen „Abschreckung“, „Informationsverbesserung“, „Ressourcenförderung“, „Verminderung von Risikofaktoren“ etc.; bei präventiven Massnahmen für Organisationen ist von „Etablierung und Durchsetzung von klaren Regeln“, „Einrichtung von klaren Entscheidungswegen“, „Vernetzung“ etc. die Rede.

Diese Methoden implizieren zwangsläufig, dass bei den beratenen Personen und/oder Organisationen Probleme bestehen, welche durch die Methoden der Prävention wenn schon nicht gelöst, dann doch gelindert werden können – alles in Hinblick auf die Verhinderung der ursprünglich zu verhindernden Probleme. Oder anders formuliert: Die Prävention konstruiert intermediäre Problemlagen. Die zu beratenden Personen sind dann zu wenig informiert, haben zu wenig Angst vor den Drogen, sind zu wenig konfliktfähig, haben süchtige Eltern etc., und die Organisationen leiden unter intransparenten Entscheidungswegen, haben unklare Hierarchien, verwenden keine einheitlichen Regeln in Bezug auf Suchtmittelkonsum usw. In andern Worten: die Beratung ist dann nicht mehr präventiv; sie ist zur Behandlung geworden, um präventiv wirken zu können.

 

Abschliessende Bemerkungen

 

Wenn man Prävention als spezielle Form beratender Kommunikation versteht, so wird deutlich, dass sich Prävention nicht in der Verbreitung massenmedialer Botschaften und der Veranstaltung einmaliger Anlässe erschöpfen kann. Prävention ist der Versuch, auf operativ geschlossene psychische und soziale Systeme einzuwirken – ein Versuch, der dadurch erschwert wird, dass die Prävention nicht wie therapeutische oder Organisationsberatung auf einem Problemdruck der beratenen Systeme aufbauen kann.

Die in diesem Artikel vertretene These ist, dass die Prävention die eigentlich zu verhindernden Probleme in den Hintergrund verschiebt und Problemlagen konstruiert, die wirklich behandelbar sind. Auch wenn Differenzen zu andern Beratungsformen bestehen bleiben, kann man doch vermuten, dass die Prävention von den Erfahrungen der systemischen Psychotherapie und Organisationsberatung profitieren kann – um so mehr als die Professionalisierung dieser beiden Disziplinen deutlich weiter fortgeschritten ist als ihre eigene.

 

Zitierte Literatur und ausgewählte Bücher zur Vertiefung

  • Baraldi, Claudio; Corsi, Giancarlo; Esposito, Elena, 1997: GLU – Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt am Main

  • Bundesamt für Gesundheit, 1999: Prävention und Gesundheitsförderung bei Jugendlichen – Ziele, Strategien, Programme und Projekte. Bern

  • Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung BzgA (Hrsg.), 2000: Prävention des Ecstasykonsums – Empirische Forschungsergebnisse und Leitlinien. 2. Auflage. Köln

  • Fuchs, Peter, 1994: Die Form beratender Kommunikation. Zur Struktur einer kommunikativen Gattung. In: ders.; Pankoke, Eckart, 1994: Beratungsgesellschaft. Schwerte: 13-25

  • Hafen, Martin, 2001: Die Begrifflichkeit im Präventionsbereich – Verwirrung auf allen Ebenen. In: Abhängigkeiten 1/01

  • Hafen, Martin, 2000: Systemische Prävention – Grundlagen für eine Theorie präventiver Massnahmen. In: Prävention&Prophylaxe 4/00

  • Luhmann, Niklas, 1996: Die Realität der Massenmedien. 2. erweiterte Auflage. Opladen

  • Mäder, Felix, 2000: Zorn und Zärtlichkeit. Eine Ideengeschichte der Suchtprävention. Lausanne