Fachzeitschrift Prävention&Prophylaxe 1/01

 

Die Funktion der Prävention für die Gesellschaft

 

Bemühungen zur Verhinderung von Krankheit und krankheitsförderndem Verhalten gibt es schon seit langer Zeit. Doch nicht immer beschränkt sich die Funktion präventiver Massnahmen auf die Verhinderung gesellschaftlich unerwünschter Phänomene wie Krankheit oder Sucht.

Nach einer Einführung in den Funktionsbegriff soll – ausgehend von einem historischen Rückblick – gezeigt werden, wie sich die Funktionen der Prävention verändern und warum die westliche Gesellschaft seit den 70er-Jahren immer mehr Präventionsangebote für immer mehr zu verhindernde Verhaltensweisen und Zustände bereit stellt.

 

Martin Hafen

 

Der Begriff der Funktion hat in der Systemtheorie eine zentrale Bedeutung. Die Theorie geht davon aus, dass jede Bildung von sozialen Systemen auf die Erfüllung einer ganz bestimmten Funktion oder mehrerer Funktionen ausgerichtet ist. Die Wichtigkeit des Funktionsbegriffes wird daraus ersichtlich, dass die gesamtgesellschaftliche Entwicklung seit dem ausgehenden Mittelalter von der Systemtheorie unter dem Stichwort „funktionale Differenzierung“ zusammengefasst wird.

 

Funktional differenzierte Gesellschaft

 

Die These ist, dass sich die Gesellschaft nicht mehr in Schichten aufgliedert (z.B. Adel/Klerus, Bürgertum, Bauern), sondern dass sie weltweit operierende soziale Systeme ausdifferenziert, welche bestimmte Funktionen erfüllen. Diese Systeme sind operativ geschlossen, das heisst sie nehmen zwar Informationen aus ihrer Umwelt auf, verarbeiten diese aber nach ihren eigenen Prinzipien. Dies soll am Beispiel von Wirtschaft und (Drogen-)Politik kurz erläutert werden.

Die Funktion der Wirtschaft ist es, den Austausch von Gütern zu regeln oder – in der ökonomischen Fachsprache – Knappheiten zu prozessieren. Ein leitendes Prinzip des Wirtschaftssystems ist das Prinzip von Angebot und Nachfrage: Wenn das Angebot gross ist und die Nachfrage gering, dann sinken die Preise; im umgekehrten Fall steigen sie.

 

Die Schwierigkeit der kausalen Intervention

 

Wenn nun das politische System – aus was für Gründen auch immer – beschliesst, gewisse psychoaktive Substanzen zu verbieten, so folgt das Wirtschaftssystem dieser Irritation aus seiner Umwelt nicht einfach, sondern verarbeitet sie nach den eigenen Strukturen. Da die Nachfrage nach den verbotenen Gütern immer noch besteht, werden diese Güter auch weiter angeboten – aber nicht mehr in der gewohnten Form, sondern in einer, die den veränderten Umweltbedingungen gerecht wird: dem Schwarzmarkt. Wirtschaftlich gesehen zeichnet sich der Handel auf dem Schwarzmarkt vor allem durch das Risiko der Strafverfolgung aus; also werden Organisationen gebildet, welche darauf spezialisiert sind mit diesem zusätzlichen Risiko umzugehen (organisiertes Verbrechen). Belohnt wird ihre erhöhte Risikobereitschaft durch die gestiegenen Preise und Gewinnmarchen, welche durch die Illegalisierung bedingt sind.

 

Funktion als Problemlösung

 

Das Wirtschaftssystem erfüllt also seine Funktion für die Gesellschaft, auch wenn die Politik dies verhindern möchte. Die Geschichte der letzten 130 Jahre Drogenpolitik ist in diesem Sinn ein Paradebeispiel für die Unmöglichkeit kausaler Intervention in ein soziales System. Alle Drogenverbote, drakonische Strafen, ein Repressionsapparat von Hunderttausenden von MitarbeiterInnen, ja sogar militärische Invasionen wie in Panama haben das Drogenproblem nicht gelöst – im Gegenteil: man ist heute geneigt zu sagen, die Lösung (Prohibition) sei ein gewichtiger Teil des eigentlichen Problems.

Damit rückt ein Begriff in den Vordergrund, der gelegentlich zur Übersetzung des Terminus „Funktion“ verwendet wird: der Begriff der Problemlösung. Die Politik versucht mit ihren Entscheidungen, die Probleme zu lösen, die das Zusammenleben von Menschen mit sich bringt; das Rechtssystem versucht, das Problem zu lösen, dass die durch die Politik erlassenen Regeln bisweilen verletzt werden; das System der Sozialen Hilfen beschäftigt sich mit Problemen, die dadurch entstehen, dass Personen aus einzelnen Funktionssystemen ausgeschlossen werden.

 

Soziale Hilfe als Funktionssystem

 

Das Beispiel der Sozialen Hilfe zeigt, dass die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft ein Prozess ist, der sich über einen langen Zeitraum hin zieht: Während die Anfänge eines weltumspannenden Wirtschaftssystems auf das 16. Jahrhundert terminiert werden können, beginnt das System der Sozialen Hilfe erst ab dem 20. Jahrhundert an Kontur zu gewinnen. Bis zum ausgehenden Mittelalter war Soziale Hilfe in Europa in erster Linie eine Aufgabe der höheren Schichten, also des Adels und des wohlhabenden Bürgertums. Mit der Auflösung der alten Ordnung – einem Prozess, der in der französischen Revolution seinen Höhepunkt fand – musste sich die Hilfe in der westlichen Gesellschaft neu organisieren. Das führte zur Herausbildung von Organisationen, die speziell auf Hilfe ausgerichtet waren; zudem erliess die Politik eine zunehmende Zahl an Gesetzen, welche die Hilfe regeln sollten, und stellte aus den Steuereinnahmen Geld zur Finanzierung zur Verfügung.

 

Binnendifferenzierung

 

Das System der Sozialen Hilfe ist ein gutes Beispiel um zu zeigen, wie sich die Funktionssysteme intern in weitere Subsysteme ausdifferenzieren. Heute kennen wir zahlreiche spezialisierte Bereiche der Sozialen Hilfe – Altenpflege, Obdachlosenhilfe, Jugendhilfe, Behindertenhilfe etc. –, welche sich wieder in Unterbereiche aufteilen. Besonders deutlich ist das an der Suchthilfe zu sehen, die sich in den letzten Jahren in die Bereiche Prävention, Rehabilitation (ambulant oder stationär), Nachsorge und Schadenminderung aufgeteilt hat – Systeme, die innerhalb der Suchthilfe wieder mit spezifischen Strukturen operieren.

 

Prävention als Subsystem der Sozialen Hilfe?

 

Die Ausdifferenzierung des Suchthilfesystems legt also nahe, die Prävention als Subsystem des Sozialhilfesystems zu verstehen. Andererseits wird auch in andern gesellschaftlichen Funktionssystemen Prävention gemacht – etwa im Medizinsystem oder im Rechtssystem. Wie ist es also zu erklären, dass es in der neueren Präventionsgeschiche zu der engen Verbindung von Prävention und Sucht gekommen ist, obwohl in andern Gesellschaftsbereichen schon sehr viel länger präventive Bemühungen unternommen werden und die Verbindung von Prävention und Sucht eher hinderlich als nützlich ist, wenn präventive Angebote auch in andern Themenbereichen eingerichtet werden sollen?

Hier soll versucht werden, diese Frage zu beantworten, indem ein Blick auf die unterschiedlichen Funktionen geworfen wird, welche die Prävention im Laufe der Geschichte für die Gesellschaft erfüllt hat, und indem diesen Funktionen die Entwicklung des Suchtverständnisses gegenüber gestellt wird.

 

Frühe Konzepte der Gesundheitserziehung

 

Vorerst lässt sich für die Prävention eine sehr generelle Funktion definieren, die ja auch im lateinischen Ursprungsbegriff „praevenire“ (zuvorkommen) enthalten ist: die Verhinderung von gesellschaftlich unerwünschten Verhaltensweisen und Zuständen. Ein Blick auf die Geschichte zeigt, dass solche Bemühungen zuerst im Medizinsystem unternommen wurden, dass es also darum ging, die Gesundheit der Menschen durch erziehende Massnahmen zu fördern. Brieskorn und Köhler (1997) unterscheiden für die Zeit bis zum 20. Jahrhundert folgende Konzepte:

  • Das antike Konzept der griechischen „diaita“, einem Regelwerk für eine harmonische Lebensordnung, welche die Körpersäfte im Gleichgewicht hält.

  • Das christlich-mittelalterliche Konzept der Gesundheitserziehung als Teilnahme am Schöpfungswerk Gottes, welches der gottgefälligen Seele einen grossen Einfluss auf den Körper zuschrieb.

  • Das frühmoderne Konzept der Gesundheitserziehung als wissenschaftliche Hygiene zur Erhaltung von Leistungsfähigkeit, welches auf die vom Protestantismus begleitete Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Wirtschaft hindeutete.

 

Die Entwicklung des Suchtverständnisses

 

Emlein (1998) hat die Entwicklung des Suchtverständnisses im gleichen Zeitraum untersucht. Nach seinen Ausführungen wurden Sucht und Rausch in der Antike zum einen mit Dämonentheorien erklärt, da die Phänomene unerklärlich erschienen. Andererseits gab es auch (vor-)wissenschaftliche Erklärungen, wie jene des Hippokrates, der im wiederholten Rausch keine Krankheit für sich sah, sondern lediglich ein Fehlverhalten, welches das Gleichgewicht der Körpersäfte stören konnte (s. „diaita“).

Im Mittelalter bestand nach Emlein für das Individuum ein relativ geringer Zwang zur Affektkontrolle; aus diesem Grund wurde auch die Berauschung weit gehend geduldet, und es drängten sich keine vorbeugenden Massnahmen auf. Das änderte sich im 15. Jahrhundert: das Aufkommen des Bürgertums und der protestantische Hang zur Nüchternheit brachten die Lust und mit ihr den Rausch zunehmend in Verruf. Bis zum 18. Jahrhundert wurde das Rauschtrinken jedoch lediglich als „unvernünftig“ eingestuft. „Die Hilfestellung ist entsprechend nicht das Krankenhaus, sondern das Umerziehungslager.“ (Emlein, 1998: 51)

 

Die Annäherung von Krankheit und Sucht

 

Da die gehobene Gesellschaft nicht auf den Alkoholkonsum (und die Berauschung) verzichten mochte, etablierte sich im 18. Jahrhundert die semantische Unterscheidung von ‚genussvollem Trinken in guter Gesellschaft’ und ‚zügellosem, süchtigem Trinken in schlechter Gesellschaft’.

Mit der Thematisierung des Suchtaspektes des Alkoholkonsums wurde das übermässige Trinken zum ersten Mal medizinalisiert. Zur gleichen Zeit differenzierte sich im Medizinsystem die Psychiatrie aus, und diese nahm sich des Alkoholkonsums als einer neben andern Verhaltensweisen an, die behandelt werden mussten.

Mit der Medizinalisierung der Behandlung von übermässigem Alkoholkonsum verschob sich die Bewertung des Alkoholkonsums zunehmend von Unvernunft auf Krankheit – eine Entwicklung, welche die Einstellung gegenüber Alkoholsucht bis heute prägt.

 

Die politische Funktion von Suchtvorbeugung

 

Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich schliessen, dass präventive Massnahmen bis zum 20. Jahrhundert vor allem zwei Funktionen hatten: die Verhinderung von körperlicher Krankheit und – ca. ab dem 15. Jahrhundert – das Vermeiden von sozialer Unordnung. Mit der begrifflichen Annäherung von Sucht und Krankheit verlor sich der ordnungspolitische Aspekt der Suchtprävention jedoch nicht – im Gegenteil: Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert werden präventive Massnahmen immer intensiver zur Durchsetzung realpolitischer Interessen eingesetzt. Das geschah unter anderem dadurch, dass „die ‚Alkoholfrage’ während Jahrzehnten von gesellschaftlichen Autoritäten instrumentalisiert und auch missbraucht wird [...] für soziale Disziplinierung, für die Stigmatisierung von Minderheiten, für die Durchsetzung eines Normalitätsideals im Dienste von nationalistischen und volkswirtschaftlichen Zielsetzungen.“ (Tanner 1993, S. 5)

Auf die Geschichte der Drogenpolitik wurde in diesem Zusammenhang ja schon weiter oben hingewiesen.

 

1968: das Geburtsjahr der „modernen“ Prävention

 

Diese beiden Funktionen von Prävention – Verhinderung von sozialer Unordnung und von körperlicher Krankheit – lassen sich auch für die Zeit belegen, in der die Geschichte der heutigen Prävention ihren Anfang hat: die Zeit nach den 68er-Unruhen. In den ersten Jahren dieser Phase war der Drogenkonsum noch stark mit sozialem Protest verbunden. Nach Mäder (2000) etablierten sich zu dieser Zeit drei Denkstile, welche die Prävention prägten:

  • der autoritative Denkstil, der durch Polizei und Politik geprägt wurde und vor allem die Wiederherstellung der Ordnung zum Ziel hatte

  • der psychologische Denkstil, der sich auf die psychischen Ursachen von Suchtentwicklung konzentrierte

  • der alkoholgegnerisch-präventivmedizinische Denkstil, der (zumindest in der Schweiz) eng mit der Abstinenzbewegung verbunden war

 

Die Etablierung der Prävention im System der Sozialen Hilfe

 

Um auf den sich ausbreitenden Suchtmittelkonsum behandelnd und präventiv reagieren zu können, benötigte man Organisationen. Da in den frühen 70er-Jahren die gesundheitlichen Folgen des Drogenkonsums noch nicht so weit im Vordergrund standen wie später, nahmen sich nicht in erster Linie die (bereits bestehenden) Organisationen des Medizinsystems der Behandlung und Prävention von Drogensucht an, sondern es differenzierten sich neue Organisationen aus: die Therapeutischen Wohngemeinschaften und die Suchtpräventionsstellen.

Zumindest im Bereich der illegalen Drogen bildete sich die Suchtarbeit als Subsystem der Sozialen Hilfe aus und mit ihr die Prävention.

 

Die Stabilität von Strukturen

 

Am Beispiel der Suchtarbeit lässt sich folglich zweierlei dokumentieren – die Stabilität von einmal etablierten Systemstrukturen und die Tendenz von sozialen Systemen zur Selbsterhaltung: Obwohl die Semantik von Drogensucht spätestens in den 80er-Jahren deutlich in Richtung „Krankheit“ verschoben wurde, blieben sowohl die Behandlung als auch die Prävention von Sucht im System der Sozialen Hilfe verhaftet. Es war also nicht so, dass mit der Definition von Sucht als Krankheit plötzlich das Medizinsystem für die Prävention zuständig gewesen wäre. Das Thema war wie „schon vergeben“.

Die Etablierung der „modernen“ Prävention als „Suchtprävention“ hatte Folgen, die bis in die Gegenwart zu spüren sind: „Prävention“ und „Suchtprävention“ werden auch heute noch weit gehend gleichgesetzt, obwohl auch für andere Themen präventive Massnahmen gefordert werden – Themen, die nicht oder nur sehr beschränkt mit der Suchtmetapher in Zusammenhang gebracht werden können: Essstörungen, Jugendgewalt, sexueller Missbrauch, Mobbing etc. Wegen dieser strukturellen Verankerung sind es in der Regel die „Suchtpräventionsstellen“, die sich dieser Themen annehmen und die auch erkannt haben, dass in Bezug auf die Entstehung dieser unerwünschten Verhaltensweisen und Zustände gewisse – meist sozial bedingte – Parallelen bestehen.

 

Die Risiko(wahrnehmungs)gesellschaft

 

Heute besteht also die interessante Situation, dass sich im System der Sozialen Hilfe ein Angebot an Organisationen, Programmen und Projekten entwickelt hat, welches sich bis dahin vornehmlich mit der Prävention von (substanzenbezogener) Sucht beschäftigt hat, der aber zunehmend auch für die Verhinderung von andern Risiken eingesetzt wird. Angesichts dieser Tatsache stellt sich die Frage, wieso die Gesellschaft in immer schnellerem Rhythmus Themen definiert, die – wie vormals die Drogensucht – mit den Mitteln der Prävention angegangen werden sollen, obwohl die Prävention nicht gerade behaupten kann, dass sie in Bezug auf die Verhinderung von substanzenbezogener Sucht besonders erfolgreich gewesen wäre?

Zur Behandlung dieser Frage lässt sich an die These von Niklas Luhmann (1991) anschliessen, die besagt, dass die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Sensibilisierung für Risiken entwickelt hat. Unterstützt wird dieser Prozess durch die Massenmedien, durch welche wir ja den grössten Teil unseres Wissens über „die Welt“ beziehen, und die eine offensichtliche Vorliebe für die Behandlung von Unglücksfällen, Verbrechen und Katastrophen haben.

 

Risikoabsorption ohne zusätzliche Risiken

 

Die Prävention scheint sich unter diesen Voraussetzungen als Mittel zu etablieren, mit welchem die Gesellschaft auf ihre gesteigerte Risikowahrnehmung reagieren kann. Die Prävention hat zudem den Vorteil, dass sie selbst keine Risiken generiert – anders als vorbeugende Massnahmen in den Bereichen Grosstechnologie (etwa: Atomkraftwerke) oder Umweltzerstörung, die als Technologien selber Risiken bergen oder ein Risiko für einzelne gesellschaftliche Subsysteme (wie für die Wirtschaft im Fall von Lenkungsabgaben) darstellen.

Neben dem geringen Risikoponenzial können noch weitere Vorteile für die Begründung der Popularität von präventiven Massnahmen angeführt werden: Prävention ist – zumindest wie sie heute betrieben wird – verhältnismässig kostengünstig; sie verschafft dem System der Sozialen Arbeit unerschöpflichen Anlass zur eigenen Reproduktion, und sie verhilft PolitikerInnen zur Wiederwahl, da diese mit ihrer Forderung nach Prävention zeigen, wie Ernst sie die Probleme nehmen, welche die Bevölkerung beschäftigen.

 

Die Funktionen der Prävention

 

Wenn die „Verhinderung von gesellschaftlich als unerwünscht erklärten Verhaltensweisen und Zuständen“ weiter oben als Hauptfunktion der Prävention eingeführt wurde, so rücken jetzt eine Reihe von Unterfunktionen der Prävention ins Blickfeld: Die Gesellschaft fühlt sich durch Prävention entlastet, da sie erwarten kann, dass es Einrichtungen gibt, welche die sie plagenden Probleme verhindern, bevor sie entstehen; die PolitikerInnen können schon mit der Forderung nach mehr Prävention beweisen, wie sehr sie sich um die Verhinderung der Probleme bemühen, die sie zu lösen nicht in der Lage sind, und dem System der Sozialen Hilfe, das wie jedes System seine eigene Reproduktion vor Augen hat, eröffnet sich neben der Vielfalt zu lösender Probleme die Aussicht auf ein Tätigkeitsfeld, welches mehr Befriedigung verspricht als das fast zwangsläufig frustrierende Behandeln von sich laufend reproduzierenden Notlagen.

 

Der schwierige Wirkungsnachweis

 

Bei alledem hat die Prävention die Eigenschaft, dass ihre (Nicht-)Wirkung kaum exakt zu erfassen ist. Dabei ist nicht nur in Betracht zu ziehen, dass die Präventionsforschung über erste Gehversuche noch nicht hinausgekommen ist und sich bei ihren Bemühungen mit diversen Stolpersteinen in der Form von immensen methodologischen Problemen konfrontiert sieht; vielmehr ist auch der Umstand zu beachten, dass es kaum möglich ist zu sagen, wie es gekommen wäre, wenn in einem bestimmten Fall keine Prävention stattgefunden hätte. Dies mag für die Wissenschaft ärgerlich sein; der Gesellschaft und den betroffenen Subsystemen bietet dieser Umstand die Chance, weiter darauf zu vertrauen, dass die Prävention die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllt.

 

Abschliessende Bemerkungen

 

Prävention als symbolischer Rettungsanker für eine angsterfüllte Gesellschaft, als Treibstoff für die Reproduktion des Sozialarbeitssystems und als Feigenblatt für karrierebewusste und hilflose PolitikerInnen? – Diese plakative Kurzfassung von wichtigen Funktionen der Prävention mag manch eineN desillusionieren.

Vielleicht dient ein wenig Desillusionierung der Prävention selbst mehr, als dass sie ihr schadet. Vielleicht hilft ein wenig Nüchternheit zu erkennen, welcher immensen Komplexität man sich aussetzt, wenn man gesellschaftliche Probleme verhindern will, bevor sie entstehen. Es scheint offensichtlich, dass dieser Komplexität nicht mit gut gemeinten,  isolierten und kurzfristigen Aktivitäten beizukommen ist, wie sie heute noch immer die Regel sind.

Damit die Prävention ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden kann, braucht es Anstrengungen in verschiedener Hinsicht:

  • Gesetzliche Grundlagen: ohne entsprechende gesetzliche Bestimmungen wird die Prävention die notwendige Kontinuität und Kohärenz nicht entwickeln können.

  • Professionalisierung: ohne den Aufbau von spezifischen Weiterbildungsangeboten, die Etablierung von Qualitätsstandards/-sicherung und die konsequente Evaluation werden präventive Massnahmen die Beliebigkeit nicht ablegen können, die ihnen heute noch zu oft eigen ist.

  • Verwissenschaftlichung: Wie jede Profession ist auch die Prävention auf wissenschaftliche Grundlagenarbeit angewiesen. Die Defizite im Bereich der Theoriebildung sind dabei noch grösser als jene im Bereich der (empirischen) Wirkungsforschung.

Alle drei Bereiche können sich nur wunschgemäss entwickeln, wenn im politischen System die entsprechenden Entscheidungen gefällt werden. Solche Entscheidungen werden nur möglich sein, wenn die Gesellschaft erkennt, das Prävention auch unbequem und teuer werden kann. Nur mit dieser Erkenntnis wird es möglich sein, die PolitikerInnen dazu zu bewegen, die Stufe der Lippenbekenntnisse zu überwinden und Entscheidungen zu treffen, die nicht in erster Linie ihrer Karriere förderlich sind, sondern eine Prävention ermöglichen, die eine reelle Chance hat, ihre eigentliche Funktion zu erfüllen – die Verhinderung von unerwünschten Verhaltensweisen und Zuständen.

 

Zitierte Literatur und ausgewählte Bücher zur Vertiefung

  • Brieskorn-Zinke, Marianne; Köhler-Offierski, Alexa, 1997: Gesundheitsförderung in der Sozialen Arbeit – Eine Einführung für soziale Berufe. Freiburg i. Brsg.

  • Emlein, Günther, 1998: Von Mythen, Medizinern und Moral. Ein Gang durch die Geschichte der Sucht. In: ders.; Schwertl, Walter; Staubach, Maria L.; Zwingmann Elke (Hrsg.), 1998: Sucht in systemischer Perspektive. Theorie – Forschung – Praxis. Göttingen: 43-64

  • Hafen, Martin, 1995: Suchtprävention – der lange Weg von der Symptom zur Ursachenbekämpfung. In: Sozialarbeit. Nr. 19/95: 2-9

  • Luhmann, Niklas, 1973: Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen. In: Otto, Hans-Uwe; Schneider, Siegfried, 1973: Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit. 1. Halbband. Berlin: 21-43

  • Luhmann, Niklas, 1991: Soziologie des Risikos. Berlin/New York

  • Luhmann, Niklas, 1996: Die Realität der Massenmedien. 2. erweiterte Auflage. Opladen

  • Mäder, Felix, 2000: Zorn und Zärtlichkeit. Eine Ideengeschichte der Suchtprävention. Lausanne

  • Tanner, Jakob, 1993: Von Genuss- und Heilmitteln zu „Rauschgiften“ – ein Blick auf die Geschichte des Drogenproblems. In: Sozialarbeit 1/93. Bern: 3-9